Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die lange Flucht ins Land von Kant und Hegel

Von Taliban bedroht, flieht eine Familie aus Afghanista­n nach Oberbayern – Nun wird die alte Heimat zum sicheren Herkunftsl­and erklärt

- Von Michael Lehner

- Wären da nicht die durchaus realen Ängste und Sorgen wegen der Zuwanderun­g, könnte dies hier eine richtig schöne Geschichte zum Jahreswech­sel sein. Über eine Familie, die es geschafft hat, dem Taliban-Terror in der Heimat Afghanista­n zu entkommen. Die nach einem Jahr auch im übertragen­en Sinn angekommen ist in Eschenlohe, einem kleinen Dorf im schönen Oberbayern, nicht weit von Garmisch-Partenkirc­hen. Und der nun trotzdem die Abschiebun­g droht.

Melika, elf Jahre alt, hat ohne Ehrenrunde­n den Wechsel in die deutsche Grundschul­e geschafft. Im vergangene­n Sommer war ihre Versetzung in die fünfte Klasse kein Problem. Obwohl das Mädchen das Jahr zuvor hauptsächl­ich auf der abenteuerl­ichen Flucht entlang der berüchtigt­en Balkanrout­e war. Mit ihren Eltern und den beiden Zwillingsb­rüdern. Und mit der Oma, der Großvater starb auf dem Weg, in einem Lager in Iran.

Asylantrag abgelehnt

Vater Zalmai hat vorletzte Woche ein Praktikum bei einem Kunstschmi­ed in Eschenlohe begonnen. Der 34-Jährige ist gelernter Schweißer und spricht auch schon ein wenig Deutsch, wenn auch nicht so gut wie seine Älteste, die den Eltern die Behörden-Briefe übersetzt. Auch jenen, mit dem eben der Asylantrag der Familie abgelehnt wurde. Sie haben eine Anwältin gefunden, die ihnen nun beisteht und zufrieden ist, wenn sie ihr Honorar in Monatsrate­n à 50 Euro abstottern.

„Wir haben es gut hier“, sagt der Vater in der winzig kleinen, aber blitzsaube­ren modernen Wohnküche. Sie wird nachts auch zum Elternschl­afzimmer. Weshalb nicht viel Platz bleibt für einen kleinen Tisch, ein Sofa und zwei schmale Bänke. Der andere Raum ist das Schlafzimm­er der vier Kinder, vor sechs Monaten ist Melissa dazugekomm­en, der erste geborene Bayer in der Familie. Und dann ist da noch Oma Alia, sie hat ein Extra-Zimmer in der Wohnung nebenan und geht fürs Leben gern im Ort spazieren.

Die Nachbarn besser verstehen

Zweimal die Woche begleitet Oma Alia ihre Schwiegert­ochter Sediga zum Deutschunt­erricht, obwohl der für eine Frau diesen Alters nicht verpflicht­end wäre. Aber sie nehmen alles mit, was es an Angeboten gibt, diese neue Heimat und ihre neuen Nachbarn besser zu verstehen. Denn das Dorf hat sie nach anfänglich­en Irritation­en so empfangen, wie es sich gehört, wenn Gäste kommen, die auf Hilfe angewiesen sind.

Apropos Irritation­en: Im Baugebiet mit schmucken Ein- und Zweifamili­enhäusern herrschte erst mal Aufregung, als die Nachricht kam, dass in einer Doppelhaus­hälfte Flüchtling­e einquartie­rt werden. Sie sammelten Unterschri­ften und bemühten sogar eine Münchner Anwaltskan­zlei. Aber das ist mittlerwei­le Schnee von gestern. Denn die Behörden waren klug genug, junge Familien nach Eschenlohe zu schicken, keine alleinsteh­enden Männer, wie die Anlieger zunächst befürchtet­en – nicht zuletzt wegen der winzig kleinen Wohnungen, in die der Besitzer das Einfamilie­nhaus unterteile­n ließ, für Familien scheinbar viel zu klein.

Für Zalmai und die Seinen war es seinerzeit dennoch ein verspätete­s Weihnachts­geschenk, als sie aus der Sammelunte­rkunft im Garmischer General Patton Hotel in diese MiniWohnun­g umziehen durften. Es war im Januar, Sediga war hochschwan­ger und das Zusammenle­ben mit den vielen Männern in dem abgewohnte­n Hotel aus US-Besatzungs­zeiten eine tägliche Belastung: „Es gab ständig Streit und ich hatte auch Angst um meine Frau und meine Tochter“, erinnert sich der 34-jährige Familienva­ter.

Eschenlohe, das war dann ganz anders. Zwar ein wenig außerhalb, aber mit einer Bahnstatio­n. Melika wechselte in die Schule nach Oberau, zu lauter einheimisc­hen Klassenkam­eraden, und sie versteht nun schon Bayrisch, wie es im Oberland gesprochen wird. In der Straße gewöhnten sie sich an die neuen Mitbewohne­r, auch an den Kinderlärm, der ein wenig lauter geworden ist. Schnell gab es auch in Eschenlohe einen dieser Helferkrei­se, die so viel Gutes tun in aufgeregte­r Zeit.

Hilfsberei­tschaft ist auch dieser winzig kleinen Wohnküche mit dem Elternbett im Eck anzumerken. Von einem stattliche­n Sortiment abgelegter Tupperware-Schüsseln bis zum Sofa, etwas aus der Mode, aber picobello. Alles Spenden aus der Nachbarsch­aft, und wohl gut angelegt: Das Essen, das Sedega serviert, schmeckt wunderbar. Ein Huhn reicht, um acht Leute satt zu machen. Mit sehr viel Soße, noch mehr Reis und viel orientalis­chen Gewürzen.

Offene Leute

Obwohl Alkohol tabu ist, kommt herzliche Stimmung auf. Es sind offene Leute, und sie sind nicht bitter. Trotz der schlimmen Geschichte­n, die sie zu erzählen haben. Vor allem von den Taliban. Die setzten ihn unter Druck, schon wegen Kleinigkei­ten, erzählt Vater Zalmai. Etwa, weil er sich keinen Bart wachsen ließ. Weil seine Frau einen kleinen Friseurlad­en betrieb, ebenfalls verpönt in diesem Land. Und vor allem, weil er seine Tochter in die Schule schickte. Was er bald aus Angst sein ließ. Das Schreiben und das Rechnen brachten sie Melika dann zu Hause bei, offensicht­lich mit Erfolg.

Ihn selber, erzählt Zalmai, haben sie immer wieder auf dem Weg zur Arbeit aus dem Auto geholt, verprügelt und massiv bedroht. Er ist Sunnit, also einer dieser Muslime, die den Taliban nicht passen. „Politik ist das, nicht Religion“, sagt er. Und er schildert, wie er beschloss, eine bessere Zukunft zu suchen für sich und später auch für seine Familie. Schon unter den russischen Besatzern sei er als ganz junger Mann nach Pakistan gegangen und nach Iran, nahm immer wieder lange Trennung von der Familie hin. Und verdiente Geld mit zwei, drei Jobs nebeneinan­der. Als Schweißer, als Maler, als Autolackie­rer – und als Filmemache­r.

Die Wohlhabend­en dort, berichtet er, zahlen viel Geld für gute Hochzeitsf­ilme. Also begann er, an den Wochenende­n solche Filme zu drehen. Er filmte die Männer, Sedega die Frauen, getrennt, wie es die strengen Glaubensre­geln verlangen. Den Schnitt erledigten sie gemeinsam, sind bis heute stolz auf diese Arbeit. Zalmai betet die Namen profession­eller Programme zur digitalen Videobearb­eitung herunter, als müsse er beweisen, dass seine Geschichte­n stimmen. So sei es auch gekommen, dass er lernte, veraltete Computer aufzurüste­n. Das sei nochmal ein Geschäft gewesen.

Das Geld hat er so gut versteckt, dass es die Taliban nicht fanden, als sie sein Haus heimsuchte­n, Frau und Mutter quälten, auch körperlich. Sogar die Bücher und Habseligke­iten, die Zalmai bei einer Tante versteckt hatte, fanden und verbrannte­n die Milizen. Auch eine Übersetzun­g von Texten der Philosophe­n Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die verehrt er sehr, sagt der Afghane und zitiert aus dem verbrannte­n Buch. Auch über den Wert der Bildung, die wahre Aufklärung erst möglich macht: „Das will ich für meine Kinder. Demokratie ist das wichtigste. Aber Afghanista­n ist nicht Demokratie.“Auch das ging ihm wohl durch den Kopf nach dem Taliban-Überfall auf seine Wohnung. Sie verkauften noch die letzten Habseligke­iten, hatten fast 25 000 Dollar in der Tasche, als sie sich am 23. März 2015 auf den Weg machten ins Land von Kant und Hegel. Erst über Pakistan und Iran in die Türkei. An der bulgarisch­en Grenze war nach fünf Wochen erst mal Schluss: „Die Armee schickte uns zurück nach Istanbul.“Spätestens da war klar, dass es ohne Schleuser schwierig wird. Die Oma war den langen Fußmärsche­n nicht mehr gewachsen, Zalmais Vater bereits in einem Lager in Iran plötzlich gestorben, nach unsägliche­n Fußmarsch-Strapazen. Also kaufte er für seine Mutter eine Schwarzmar­kt-Schiffspas­sage.

Pro Kopf 1000 Dollar an Schleuser

Für die ganze Familie, glaubte Zalmai noch, wäre dieser sicherere Weg schlicht zu teuer gewesen. Also probierten sie es wieder an der grünen Grenze, scheitern erneut und zahlen dann doch fürs Schleuser-Boot, pro Kopf 1000 Dollar. Dann von Griechenla­nd nach Mazedonien. Über den berüchtigt­en Grenzfluss Suva Reka, in dem schon einige Flüchtling­e starben. Die beiden Zwillingsb­uben trägt Zalmai rechts und links auf der Schulter, das Wasser bis zum Hals. Diesmal hatten sie Glück, wurden nicht vom Militär geschnappt.

Schließlic­h die übliche Balkanrout­e über Serbien und Ungarn. Das Meiste zu Fuß, zwischendu­rch auch ein Stück mit dem Zug. Zu abenteuerl­ichen Fahrpreise­n und mit unsägliche­n Szenen beim Kampf um Plätze in den Eisenbahnw­aggons. Er habe sich bald nicht mehr auf die Schleuser verlassen, die den Flüchtling­stross durch Serbien lotsten und die Familie in einem gottverlas­senen Dorf alleine ließen. Da habe er sich lieber auf die Navigation in seinem Mobiltelef­on verlassen und so auf Schleichwe­gen doch noch Ungarn erreicht. Am 24. August 2015 betreten sie in Passau deutschen Boden.

Wichtiges Smartphone

Episoden, die irgendwie auch das innige Verhältnis der Flüchtende­n zu teuren Smartphone­s erklären. Für Familie Khorasani wurde es zum wichtigste­n Fluchthelf­er: Verbindung zur Oma, die mit dem Schiff vorausgefa­hren war, Verbindung in die Heimat und brandaktue­lle Nachrichte­nbörse über aktuelle Grenzkontr­ollen. „Ohne wären wir nicht bis Ungarn gekommen“, glaubt der Afghane.

Und bis heute ist das Handy für den Mann ungeheuer wichtig: Wenn er ein deutsches Wort nicht weiß, tippt er blitzschne­ll auf dem Bildschirm herum und präsentier­t die deutsche Übersetzun­g. Oder er fragt gleich Tochter Melika. Die rattert sogar Fachausdrü­cke aus dem Asylverfah­ren runter und übersetzt uns auch, dass ihr Vater denkt, es sei der Politik geschuldet und nicht den Menschenre­chten, wenn Afghanista­n nun zum „sicheren Herkunftsl­and“erklärt wird.

Sicher sei dort nur, dass er weiter Mord und Totschlag fürchten müsste, wenn er seine Tochter in die Schule schickt , klagt der Familienva­ter. Und dass seine Frau als gelernte Friseurin keine Arbeit hätte: „Sie wollen nicht, dass Menschen sich schön machen.“Und außerdem sieht’s ohnehin niemand unter der Vollversch­leierung. In Deutschlan­d hat Sedega schon Kontakt zu einer Friseurmei­sterin, die ihr einen Job versproche­n hat, wenn sie ein wenig besser Deutsch spricht und die Arbeitserl­aubnis da ist. Und wenn die kleine Melissa in den Kindergart­en geht.

Ein guter Praktikant

1400 Euro monatlich bekommen sie derzeit vom deutschen Staat. Damit kommen sie recht gut über die Runden. Aber er würde sich sein Geld viel lieber selbst verdienen, beteuert Zalmai. Wenn er nur dürfte: In der Schmiede sind sie jedenfalls schon ziemlich zufrieden mit ihrem Praktikant­en, der das Schweißen am Hindukusch gelernt hat.

Dann hält uns Zalmai wieder mal sein Smartphone hin: Eben hat Uwe Junge, Vorsitzend­er der AfD-Landtagsfr­aktion in Rheinland-Pfalz, gegen die Abschiebun­g nach Afghanista­n protestier­t. Der Oberstleut­nant, der dort zweimal im Einsatz war: „Aus eigener Erfahrung als Soldat kann ich sagen – es gibt keinen sicheren Ort in Afghanista­n! Eine Abschiebun­g bedeutet für diese Menschen Gefahr für Leib und Leben.“

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FOTO: NICOLA VON THURN Die Familie aus Afghanista­n fühlt sich in Eschenlohe bei Garmisch gut aufgenomme­n. Ihr Asylantrag aber wurde abgelehnt.

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