Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die lange Flucht ins Land von Kant und Hegel
Von Taliban bedroht, flieht eine Familie aus Afghanistan nach Oberbayern – Nun wird die alte Heimat zum sicheren Herkunftsland erklärt
- Wären da nicht die durchaus realen Ängste und Sorgen wegen der Zuwanderung, könnte dies hier eine richtig schöne Geschichte zum Jahreswechsel sein. Über eine Familie, die es geschafft hat, dem Taliban-Terror in der Heimat Afghanistan zu entkommen. Die nach einem Jahr auch im übertragenen Sinn angekommen ist in Eschenlohe, einem kleinen Dorf im schönen Oberbayern, nicht weit von Garmisch-Partenkirchen. Und der nun trotzdem die Abschiebung droht.
Melika, elf Jahre alt, hat ohne Ehrenrunden den Wechsel in die deutsche Grundschule geschafft. Im vergangenen Sommer war ihre Versetzung in die fünfte Klasse kein Problem. Obwohl das Mädchen das Jahr zuvor hauptsächlich auf der abenteuerlichen Flucht entlang der berüchtigten Balkanroute war. Mit ihren Eltern und den beiden Zwillingsbrüdern. Und mit der Oma, der Großvater starb auf dem Weg, in einem Lager in Iran.
Asylantrag abgelehnt
Vater Zalmai hat vorletzte Woche ein Praktikum bei einem Kunstschmied in Eschenlohe begonnen. Der 34-Jährige ist gelernter Schweißer und spricht auch schon ein wenig Deutsch, wenn auch nicht so gut wie seine Älteste, die den Eltern die Behörden-Briefe übersetzt. Auch jenen, mit dem eben der Asylantrag der Familie abgelehnt wurde. Sie haben eine Anwältin gefunden, die ihnen nun beisteht und zufrieden ist, wenn sie ihr Honorar in Monatsraten à 50 Euro abstottern.
„Wir haben es gut hier“, sagt der Vater in der winzig kleinen, aber blitzsauberen modernen Wohnküche. Sie wird nachts auch zum Elternschlafzimmer. Weshalb nicht viel Platz bleibt für einen kleinen Tisch, ein Sofa und zwei schmale Bänke. Der andere Raum ist das Schlafzimmer der vier Kinder, vor sechs Monaten ist Melissa dazugekommen, der erste geborene Bayer in der Familie. Und dann ist da noch Oma Alia, sie hat ein Extra-Zimmer in der Wohnung nebenan und geht fürs Leben gern im Ort spazieren.
Die Nachbarn besser verstehen
Zweimal die Woche begleitet Oma Alia ihre Schwiegertochter Sediga zum Deutschunterricht, obwohl der für eine Frau diesen Alters nicht verpflichtend wäre. Aber sie nehmen alles mit, was es an Angeboten gibt, diese neue Heimat und ihre neuen Nachbarn besser zu verstehen. Denn das Dorf hat sie nach anfänglichen Irritationen so empfangen, wie es sich gehört, wenn Gäste kommen, die auf Hilfe angewiesen sind.
Apropos Irritationen: Im Baugebiet mit schmucken Ein- und Zweifamilienhäusern herrschte erst mal Aufregung, als die Nachricht kam, dass in einer Doppelhaushälfte Flüchtlinge einquartiert werden. Sie sammelten Unterschriften und bemühten sogar eine Münchner Anwaltskanzlei. Aber das ist mittlerweile Schnee von gestern. Denn die Behörden waren klug genug, junge Familien nach Eschenlohe zu schicken, keine alleinstehenden Männer, wie die Anlieger zunächst befürchteten – nicht zuletzt wegen der winzig kleinen Wohnungen, in die der Besitzer das Einfamilienhaus unterteilen ließ, für Familien scheinbar viel zu klein.
Für Zalmai und die Seinen war es seinerzeit dennoch ein verspätetes Weihnachtsgeschenk, als sie aus der Sammelunterkunft im Garmischer General Patton Hotel in diese MiniWohnung umziehen durften. Es war im Januar, Sediga war hochschwanger und das Zusammenleben mit den vielen Männern in dem abgewohnten Hotel aus US-Besatzungszeiten eine tägliche Belastung: „Es gab ständig Streit und ich hatte auch Angst um meine Frau und meine Tochter“, erinnert sich der 34-jährige Familienvater.
Eschenlohe, das war dann ganz anders. Zwar ein wenig außerhalb, aber mit einer Bahnstation. Melika wechselte in die Schule nach Oberau, zu lauter einheimischen Klassenkameraden, und sie versteht nun schon Bayrisch, wie es im Oberland gesprochen wird. In der Straße gewöhnten sie sich an die neuen Mitbewohner, auch an den Kinderlärm, der ein wenig lauter geworden ist. Schnell gab es auch in Eschenlohe einen dieser Helferkreise, die so viel Gutes tun in aufgeregter Zeit.
Hilfsbereitschaft ist auch dieser winzig kleinen Wohnküche mit dem Elternbett im Eck anzumerken. Von einem stattlichen Sortiment abgelegter Tupperware-Schüsseln bis zum Sofa, etwas aus der Mode, aber picobello. Alles Spenden aus der Nachbarschaft, und wohl gut angelegt: Das Essen, das Sedega serviert, schmeckt wunderbar. Ein Huhn reicht, um acht Leute satt zu machen. Mit sehr viel Soße, noch mehr Reis und viel orientalischen Gewürzen.
Offene Leute
Obwohl Alkohol tabu ist, kommt herzliche Stimmung auf. Es sind offene Leute, und sie sind nicht bitter. Trotz der schlimmen Geschichten, die sie zu erzählen haben. Vor allem von den Taliban. Die setzten ihn unter Druck, schon wegen Kleinigkeiten, erzählt Vater Zalmai. Etwa, weil er sich keinen Bart wachsen ließ. Weil seine Frau einen kleinen Friseurladen betrieb, ebenfalls verpönt in diesem Land. Und vor allem, weil er seine Tochter in die Schule schickte. Was er bald aus Angst sein ließ. Das Schreiben und das Rechnen brachten sie Melika dann zu Hause bei, offensichtlich mit Erfolg.
Ihn selber, erzählt Zalmai, haben sie immer wieder auf dem Weg zur Arbeit aus dem Auto geholt, verprügelt und massiv bedroht. Er ist Sunnit, also einer dieser Muslime, die den Taliban nicht passen. „Politik ist das, nicht Religion“, sagt er. Und er schildert, wie er beschloss, eine bessere Zukunft zu suchen für sich und später auch für seine Familie. Schon unter den russischen Besatzern sei er als ganz junger Mann nach Pakistan gegangen und nach Iran, nahm immer wieder lange Trennung von der Familie hin. Und verdiente Geld mit zwei, drei Jobs nebeneinander. Als Schweißer, als Maler, als Autolackierer – und als Filmemacher.
Die Wohlhabenden dort, berichtet er, zahlen viel Geld für gute Hochzeitsfilme. Also begann er, an den Wochenenden solche Filme zu drehen. Er filmte die Männer, Sedega die Frauen, getrennt, wie es die strengen Glaubensregeln verlangen. Den Schnitt erledigten sie gemeinsam, sind bis heute stolz auf diese Arbeit. Zalmai betet die Namen professioneller Programme zur digitalen Videobearbeitung herunter, als müsse er beweisen, dass seine Geschichten stimmen. So sei es auch gekommen, dass er lernte, veraltete Computer aufzurüsten. Das sei nochmal ein Geschäft gewesen.
Das Geld hat er so gut versteckt, dass es die Taliban nicht fanden, als sie sein Haus heimsuchten, Frau und Mutter quälten, auch körperlich. Sogar die Bücher und Habseligkeiten, die Zalmai bei einer Tante versteckt hatte, fanden und verbrannten die Milizen. Auch eine Übersetzung von Texten der Philosophen Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die verehrt er sehr, sagt der Afghane und zitiert aus dem verbrannten Buch. Auch über den Wert der Bildung, die wahre Aufklärung erst möglich macht: „Das will ich für meine Kinder. Demokratie ist das wichtigste. Aber Afghanistan ist nicht Demokratie.“Auch das ging ihm wohl durch den Kopf nach dem Taliban-Überfall auf seine Wohnung. Sie verkauften noch die letzten Habseligkeiten, hatten fast 25 000 Dollar in der Tasche, als sie sich am 23. März 2015 auf den Weg machten ins Land von Kant und Hegel. Erst über Pakistan und Iran in die Türkei. An der bulgarischen Grenze war nach fünf Wochen erst mal Schluss: „Die Armee schickte uns zurück nach Istanbul.“Spätestens da war klar, dass es ohne Schleuser schwierig wird. Die Oma war den langen Fußmärschen nicht mehr gewachsen, Zalmais Vater bereits in einem Lager in Iran plötzlich gestorben, nach unsäglichen Fußmarsch-Strapazen. Also kaufte er für seine Mutter eine Schwarzmarkt-Schiffspassage.
Pro Kopf 1000 Dollar an Schleuser
Für die ganze Familie, glaubte Zalmai noch, wäre dieser sicherere Weg schlicht zu teuer gewesen. Also probierten sie es wieder an der grünen Grenze, scheitern erneut und zahlen dann doch fürs Schleuser-Boot, pro Kopf 1000 Dollar. Dann von Griechenland nach Mazedonien. Über den berüchtigten Grenzfluss Suva Reka, in dem schon einige Flüchtlinge starben. Die beiden Zwillingsbuben trägt Zalmai rechts und links auf der Schulter, das Wasser bis zum Hals. Diesmal hatten sie Glück, wurden nicht vom Militär geschnappt.
Schließlich die übliche Balkanroute über Serbien und Ungarn. Das Meiste zu Fuß, zwischendurch auch ein Stück mit dem Zug. Zu abenteuerlichen Fahrpreisen und mit unsäglichen Szenen beim Kampf um Plätze in den Eisenbahnwaggons. Er habe sich bald nicht mehr auf die Schleuser verlassen, die den Flüchtlingstross durch Serbien lotsten und die Familie in einem gottverlassenen Dorf alleine ließen. Da habe er sich lieber auf die Navigation in seinem Mobiltelefon verlassen und so auf Schleichwegen doch noch Ungarn erreicht. Am 24. August 2015 betreten sie in Passau deutschen Boden.
Wichtiges Smartphone
Episoden, die irgendwie auch das innige Verhältnis der Flüchtenden zu teuren Smartphones erklären. Für Familie Khorasani wurde es zum wichtigsten Fluchthelfer: Verbindung zur Oma, die mit dem Schiff vorausgefahren war, Verbindung in die Heimat und brandaktuelle Nachrichtenbörse über aktuelle Grenzkontrollen. „Ohne wären wir nicht bis Ungarn gekommen“, glaubt der Afghane.
Und bis heute ist das Handy für den Mann ungeheuer wichtig: Wenn er ein deutsches Wort nicht weiß, tippt er blitzschnell auf dem Bildschirm herum und präsentiert die deutsche Übersetzung. Oder er fragt gleich Tochter Melika. Die rattert sogar Fachausdrücke aus dem Asylverfahren runter und übersetzt uns auch, dass ihr Vater denkt, es sei der Politik geschuldet und nicht den Menschenrechten, wenn Afghanistan nun zum „sicheren Herkunftsland“erklärt wird.
Sicher sei dort nur, dass er weiter Mord und Totschlag fürchten müsste, wenn er seine Tochter in die Schule schickt , klagt der Familienvater. Und dass seine Frau als gelernte Friseurin keine Arbeit hätte: „Sie wollen nicht, dass Menschen sich schön machen.“Und außerdem sieht’s ohnehin niemand unter der Vollverschleierung. In Deutschland hat Sedega schon Kontakt zu einer Friseurmeisterin, die ihr einen Job versprochen hat, wenn sie ein wenig besser Deutsch spricht und die Arbeitserlaubnis da ist. Und wenn die kleine Melissa in den Kindergarten geht.
Ein guter Praktikant
1400 Euro monatlich bekommen sie derzeit vom deutschen Staat. Damit kommen sie recht gut über die Runden. Aber er würde sich sein Geld viel lieber selbst verdienen, beteuert Zalmai. Wenn er nur dürfte: In der Schmiede sind sie jedenfalls schon ziemlich zufrieden mit ihrem Praktikanten, der das Schweißen am Hindukusch gelernt hat.
Dann hält uns Zalmai wieder mal sein Smartphone hin: Eben hat Uwe Junge, Vorsitzender der AfD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz, gegen die Abschiebung nach Afghanistan protestiert. Der Oberstleutnant, der dort zweimal im Einsatz war: „Aus eigener Erfahrung als Soldat kann ich sagen – es gibt keinen sicheren Ort in Afghanistan! Eine Abschiebung bedeutet für diese Menschen Gefahr für Leib und Leben.“