Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zum Dahinschmelzen
„Der Schneemann“– Zauberhafte Ausstellung im Schwäbischen Volkskundemuseum Oberschönenfeld
- Nein, freundlich schauen sie wahrlich nicht drein, die Schneemänner des 18. Jahrhunderts. Damals zeigte der Winter den Menschen vor allem seine kalte und ungemütliche, oft sogar gefährliche Seite. Erst später gab es sie, die freundlichen Schneemänner, mit der Karotte als Nase und den Eierkohlen als Augen. Eine Ausstellung im Schwäbischen Volkskundemuseum in Oberschönenfeld, der ältesten Zisterzienserinnenabtei Deutschlands, zeigt, wie jede Zeit dem weißen Mann ihr eigenes Gesicht gab.
Michelangelo soll im Winter 1492/93 einen Schneemann modelliert haben, der so schön war, dass seine perfekte Form in mehreren Texten gepriesen wurde. Klar, Michelangelo. Der konnte noch nicht einmal einen Schneemann bauen, ohne dass es Kunst war. Doch das Wunderwerk für die Nachwelt zu konservieren ist auch dem großen Meister nicht gelungen. Mit steigenden Temperaturen schmilzt Schnee dahin, und spätestens im März, April eines jeden Jahres ist auch der solideste Schneemann Schnee von gestern.
Menschelnde Schneemänner
Die Vergänglichkeit ist denn auch ein Topos, den fast alle Geschichten über den Schneemann begleiten. „Winter ade, scheiden tut weh“– wird dieser Liedtext des Dichters August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in einem Buch abgedruckt, muss fast immer ein dahinschmelzender Schneemann als Illustration herhalten. „Die Winter waren damals sehr hart für die Menschen“, betont die Volkskundlerin Dorothee Pesch. Sie hat die von Esther Gajek aus Regensburg konzipierte Schneemann-Ausstellung in das Volkskundemuseum Oberschönenfeld eingepasst.
Dass es so etwas wie eine Kindheit überhaupt geben durfte, diese großbürgerliche Einsicht setzte sich laut Pesch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch. In Folge durften auch die Schneemänner ihre spielerische Seite zeigen. Die Ausstellung zeigt Kinderbücher, Bilderbögen und Kalender aus der Zeit der Jahrhundertwende, aus denen ein erstaunliches Eigenleben der Gestalten spricht. Sie tollen mit den Kindern im Schnee, bewachen Haus und Hof. Und ihr Gesichtsausdruck drückt, obwohl nur aus Karottennase und Kohleeiern bestehend, menschliche Gefühle wie Freude und Trauer aus.
Es ist die chronologisch-historische Schiene, welcher der Besucher im ersten Ausstellungsraum folgen kann, beginnend mit einem Kupferstich aus dem Jahr 1770. Einen Großteil der Darstellungen verdanken die Ausstellungsmacher einer Mode, die 1870 ihren Anfang nahm: Die Reichspost führte als neues Format die „Correspondenzkarte“ein, eine schlaue und wegweisende Geschäftsidee. In einer Woche des Jahres 1900 wurden von fleißigen Postboten neun Millionen dieser Postkarten ausgetragen. Das Bedürfnis nach einer Kurznachricht mit schönem Bild und wenig Text gab es wohl schon vor Instagram und Twitter. Im Winter schmückten vor allem Schneemänner diese Postkarten. Sie waren universell einsetzbar, religiös ungebunden, und strahlten in ihrer runden Form Gemütlichkeit aus. Kaum ein Fotostudio in dieser Zeit, das im Winter nicht einen solchen Gesellen aus Stoff den Kunden an die Seite stellte.
Schneemänner als Soldaten
Aber der Schneemann war eben auch Abbild seiner Zeit, und so wurde er bewaffnet als Soldat in den Ersten Weltkrieg geschickt oder bekam von den Nationalsozialisten einen Judenstern verpasst. Ein echtes Fundstück ist der Zeichentrickfilm von Hans Fischerkoesen, den dieser 1943 im Auftrag von Reichspropagandaminister Goebbels gedreht hat: „Der Schneemann“. Der Aufmunterung der Soldaten an der Front sollte dieser Kurzfilm im Stile Walt Disneys dienen. Dass der Schneemann, der einmal den Sommer erleben wollte, diesen Wunsch mit dem Leben bezahlte, dürften die Soldaten allerdings als wenig lustig empfunden haben. Da mag der vom Schneemann ausgetrickste Hund mit Hitlerschnauzer schon für Lacher gesorgt haben.
Einer darf bei einer Ausstellung über den Schneemann nicht fehlen: Der Reutlinger Cornelius Grätz. Mehr als 3000 Schneemänner hat der gelernte Buchhändler in einer sympathischen Art von Besessenheit schon gesammelt, aus jedem nur erdenklichen Material. Seinen ersten Schneemann aus Marzipan, den er mit zwölf Jahren geschenkt bekam, gibt es ebenso zu sehen wie das „Snowman Construction Kit“für das Kind von heute, bestehend aus Karotte und Kohle – aus Plastik. Martin Walser hat schon einen Schneemann für Grätz gezeichnet, ebenso Norbert Blüm und Udo Lindenberg. Eine wissenschaftliche Leitlinie braucht seine Sammlung, die er dem Volkskundemuseum zur Verfügung gestellt hat, nicht. Der Schneemann darf bei Grätz einfach das sein, was die Menschen heute in ihm sehen: Ein kugelrunder Geselle, lustig, anspruchslos und bei Winterende auch schnell und gerne wieder im hintersten Eck verstaut – oder eben dahingeschmolzen.
Ausstellung im Schwäbischen Volkskundemuseum Oberschönenfeld. Bis 5. Februar. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr, an Silvester bis 14 Uhr. Infos über Veranstaltungen unter www.schwaebisches-volkskundemuseum.de