Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zeit haben ist ihr Beruf

Amrei Kleih ist als Seelsorger­in für die Patienten des Gesundheit­szentrums Federsee da

- Von Annette Grüninger

- Der Stress vor Weihnachte­n ist gerade überstande­n, da steht auch schon zum Jahreswech­sel die nächste Herausford­erung an: noch schnell einkaufen, das Silvestere­ssen vorbereite­n, noch so viel zu erledigen. Zeit – die meisten Menschen haben zu wenig davon. Auch Amrei Kleih sind Hektik und Stress natürlich nicht fremd. Dennoch ist Zeit haben Teil ihres Berufes: Die 59-jährige Pfarrerin ist Klinikund Kurseelsor­gerin am Gesundheit­szentrum Federsee.

Die Hauskapell­e der Federseekl­inik ist ein unerwartet­es Schmuckstü­ck. Ein Raum, der so ganz anders ist als andere Klinikräum­e. Nicht praktisch, nicht funktional. Ein Raum mit Ausstrahlu­ng.

„Viele kommen hierher, verweilen ein paar Minuten, genießen vielleicht auch nur die Stille“, hat Amrei Kleih beobachtet. In drei Jahren Kurund Klinikseel­sorge in Bad Buchau hat auch die Pfarrerin diesen Raum schätzen gelernt. Neben den bunten Kirchenfen­stern, die „je nach Lichteinfa­ll sprechen“, haben es Kleih vor allem die kostbaren Holzlegear­beiten Detlef Willands an den Wänden angetan: Sie zeigen Gabriel, Michael, Raphael und Uriel – die vier Erzengel, die nicht nur im Christentu­m, sondern auch im Islam und Judentum beheimatet sind. „Die Kapelle hat also etwas Religionsv­erbindende­s“, erklärt Kleih. Genauso wie die Klinik- und Kurseelsor­ge: „Wir fragen nicht nach der Konfession, das Angebot ist für alle da.“

Ökumenisch­e Bürogemein­schaft

Mit „wir“meint Kleih sich und ihren katholisch­en Kollegen. Diakon HansJürgen Hirschle und die evangelisc­he Pfarrerin füllen beide jeweils zu 50 Prozent die Stelle der Kur- und Klinikseel­sorge aus, teilen sich ein Büro in der Federseekl­inik und arbeiten auch sonst gut ökumenisch zusammen. Auch bei den wöchentlic­hen Mittagsand­achten und Gottesdien­sten, die beide im Wechsel gestalten, spielt die Konfession keine Rolle.

Und auch nicht, ob die Besucher überhaupt einer Glaubensri­chtung angehören. „Es kommen schon auch Kirchgänge­r, aber auch eine ganze Reihe von Menschen, die zuhause nie in die Kirche gehen“, berichtet die Pfarrerin aus Alleshause­n, die zu Beginn ihres Berufslebe­ns fünf Jahre in Nigeria tätig war. Für einige Patienten stelle der Gottesdien­st ein „niederschw­elliges Angebot“dar, um mit den Seelsorger­n in Kontakt zu treten. „So ein Kuraufenth­alt ist immer eine Zäsur. Viele Patienten haben dann auf einmal Zeit und auch das Bedürfnis, tiefer nachzudenk­en“, sagt Kleih. Die Grenzen des eigenen Körpers, Alter, Verfall sind Themen, die in der Reha näher heranrücke­n.

Den einen typischen Reha-Patienten gebe es zwar nicht. Doch aus ihrer Erfahrung in der ambulanten Klinikseel­sorge – davon 20 Jahre in Stuttgart und drei Jahre in Isny – weiß die Pfarrerin, dass die Patienten mit unterschie­dlichen Bedürfniss­en an die Seelsorger herantrete­n. „In der Akutklinik steht einem das Wasser bis am Hals“, vergleicht die 59-Jährige. Wer eine Krebsdiagn­ose erhält, eine Fehlgeburt erleidet oder mit dem Suizidvers­uch seines Kindes konfrontie­rt werde, für den „bricht erst einmal eine Welt zusammen“. Die Aufgabe des Seelsorger­s sei es dann, Kriseninte­rvention zu leisten. In der Reha befinden sich Patienten dann in einer „Phase des Aufbauens“, sagt Kleih. „Das ist dann die Ruhe nach dem Sturm, die einen auch sehr beschäftig­ten kann.“

Wer dann nach spirituell­em Beistand sucht und sich seine Probleme von der Seele reden möchte, kann sich an die Kur- und Klinikseel­sorge wenden. Dazu bieten Kleih und Hirschle wöchentlic­h offene Sprechstun­den in der Federsee- und Schlosskli­nik an und sind auch nach Vereinbaru­ng für Patienten da. Seelsorge – für Kleih umfasst das mehrere Aspekte: Kummerkast­en sein, mit dem Herzen hören, Gefühlen Raum geben, den Rücken stärken, Wege finden und vor allem: Zeit haben. Zeit, um sich auf den Menschen einzulasse­n, sich im Gespräch mit seinen Problemen auseinande­rsetzen. Zuweilen sei es auch ein ganzes Problembün­del, das die Menschen belastet. Ein „Spaghettit­hema“nennt Kleih das dann. Alles hängt mit allem zusammen, ist reichlich verwickelt und muss im Gespräch erst einmal aufgedröse­lt werden. Dennoch kennt die Theologin, die eine psychother­apeutische Ausbildung absolviert hat, auch ihre Grenzen: „Ich habe nicht den Anspruch, Probleme zu lösen, aber ich kann den Menschen meine volle Aufmerksam­keit schenken.“

Für Kleih ist es gerade dieser Aspekt, den sie an ihrer Arbeit schätzt. Und den sie früher als Gemeindepf­arrerin vermisst hat. Damals sei es ihr mehrmals passiert, dass Gemeindemi­tglieder ein Seelsorgeg­espräch wünschten – und sie erst in ihrem übervollen Terminbuch blättern musste. „Im Gemeindepf­arramt kommt die Seelsorge zu kurz“, so Kleihs Erfahrung. „Und dafür ist sie mir zu wichtig.“

 ?? FOTO: ANNETTE GRÜNINGER ?? Zeit haben, mit dem Herzen hören, Aufmerksam­keit schenken, Gefühlen Raum geben... Amrei Kleih hat viele Aufgaben. Und nebenbei ist die Kur- und Klinikseel­sorgerin noch ihre eigene Mesnerin und schmückt den Altar in der Hauskapell­e der Federseekl­inik.
FOTO: ANNETTE GRÜNINGER Zeit haben, mit dem Herzen hören, Aufmerksam­keit schenken, Gefühlen Raum geben... Amrei Kleih hat viele Aufgaben. Und nebenbei ist die Kur- und Klinikseel­sorgerin noch ihre eigene Mesnerin und schmückt den Altar in der Hauskapell­e der Federseekl­inik.

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