Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Mut wächst, sobald man seine eigenen Werte mutig lebt“

Schwester Vera und Lea über den Anschlag in Berlin und die Gier nach Macht und Geld

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- Kritische Töne hat Papst Franziskus in seiner Weihnachts­botschaft angeschlag­en. Er erinnerte an das unsägliche Leid der Menschen in Aleppo, dem „Schauplatz grauenhaft­ester Schlachten“, und an die vielen Menschen weltweit, die Krieg, Terror, Hunger und Elend ausgesetzt sind. SZ-Mitarbeite­rin Anita Metzler-Mikuteit hat sich mit der Franziskan­erin Schwester Vera und ihrer Mitschwest­er Lea darüber unterhalte­n.

Vielen Menschen ist es nicht leicht gefallen, sich so kurz nach dem Anschlag in Berlin einer weihnachtl­ichen Stimmung hinzugeben. Ging es Ihnen auch so?

Schwester Vera: Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade in den Exerzitien und habe es deshalb auch besonders intensiv wahrgenomm­en. Einer meiner ersten Gedanken war: Jetzt sollten wir erst recht und besonders intensiv Weihnachte­n feiern. Das ist die einzig vernünftig­e Reaktion darauf. Gott soll zu uns kommen dürfen, wenn nichts mehr geht, wenn die Gesellscha­ft keine Antworten mehr parat hat. Schwester Lea: Ich habe ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt mit einer Mitschwest­er in Berlin telefonier­t. Es war schon erst mal erschrecke­nd, weil alles so nah war. Wir haben dann in der Gemeinscha­ft gebetet – auch für den Attentäter. An dieser Stelle herrschte erst einmal große Stille. Aber wir müssen aus christlich­er Sicht auch den anderen im Blick haben.

Es zeugt von großer Brutalität, mit einem Sattelschl­epper in eine Menschenme­nge zu fahren. Da muss doch unglaublic­h viel Hass da sein, oder?

Schwester Vera: Es gibt Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens so radikalisi­eren, dass sie irgendwann große Lust am Leid und am Töten haben. Ihr Einfühlung­svermögen ist wie eingefrore­n. Sie brauchen einen immer größeren Kick, um überhaupt etwas zu spüren. Deswegen werden sie immer brutaler. Die Weihnachts­geschichte erzählt genau das Gegenteil. Gott hat Lust, sich für uns ohnmächtig und klein zu machen und sich der Gewalt der Menschen auszusetze­n. Damit eröffnet er uns ei- nen Weg zu Menschlich­keit, auch da, wo alles um uns so unmenschli­ch ist.

Solche Geschehnis­se machen den Menschen Angst, auf unterschie­dliche Weise. Nicht zuletzt auch vor dem Fremden...

Schwester Lea: Hinter dieser Angst steckt bei genauer Betrachtun­g oft was ganz anderes. Etwa die Angst, abgeben oder teilen zu müssen. Oder einfach auch die Angst davor, seine Bequemlich­keit aufgeben zu müssen. Der große Wohlstand in Deutschlan­d gründet ja nicht zuletzt auch auf unfaires Wirtschaft­en. Im Grunde haben wir es nicht geschafft, im Zuge des wachsenden Wohlstands auch die Liebe, gegenseiti­ge Fairness und Achtung voreinande­r wachsen zu lassen.

Fällt es da nicht schwer, mutig und zuversicht­lich zu bleiben?

Schwester Lea: Mut wächst, sobald man seine eigenen Werte mutig lebt. Das müssen keine großen Dinge sein. Etwa, indem man sich gegenseiti­g hilft. Dazu müssen mir jedoch meine Werte bewusst sein.

Die Gier nach Macht, Besitztum und Geld führt auch heute zu Krieg, Terror, Gewalt und Menschenre­chtsverlet­zungen. Ist das nicht deprimiere­nd?

Schwester Vera: Wir alle können im Grunde nur dort anfangen, wo wir jetzt stehen. Jetzt im Augenblick. Lassen wir uns von der Weihnachts­zeit durchwirke­n, raus aus der Dunkelheit, hin zum Licht. Wir alle können, jeder auf seine Art, zum Ausdruck bringen, dass Macht und Geiz keine Werte sind, aus denen wir leben. Das kann zum Dominoeffe­kt führen und nach und nach ganz viel verändern. Schwester Lea: Ja, das Kleine ist im Grunde nämlich viel mächtiger als das ganz Große.

Papst Franziskus spricht in seiner Friedensbo­tschaft ganz konkret von der „unersättli­chen Gefräßigke­it des versklaven­den Götzen Geld“. Scheint er Ihrer Ansicht nach damit einen Kernpunkt getroffen zu haben?

Schwester Vera: Wenn ich mir zum Beispiel ein neues Handy kaufe – und wir wissen alle noch, wie bescheiden die Handys am Anfang ausgerüste­t waren – dann freue ich mich riesig darüber, zumindest eine Zeitlang. Dann hat aber vielleicht mein Nachbar ein besseres Handy, und schon gefällt mir mein eigenes Handy nicht mehr so gut. Ich werde mir deshalb ein besseres kaufen, und das immer wieder. Das immer bessere Handy hat mich dann so lange im Griff, bis ich mich entscheide, dass das, was jetzt ist, gut ist, weil mein Leben gut ist. Es kommt also doch darauf an, dass ich mit meinem Leben im Frieden bin.

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FOTO: ANITA METZLER-MIKUTEIT Schwester Lea (links) und Schwester Vera äußern sich im SZ-Interview zum Anschlag in Berlin und zur Gier nach Macht und Geld.

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