Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Auf Herbergssu­che am Gleis eins

Die Ulmer Bahnhofsmi­ssion hilft vielen Menschen in Not, nicht nur an den Feiertagen

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(stz) - Am Gleis eins ähnelt der Ulmer Bahnhof einem Wohnzimmer: Eine Tür trennt die Stube vom Trubel des Bahnsteigs. Drinnen riecht es nach dem Kaffee. Auf der Holzbank blättert eine hagere Frau, um die 40, in der Zeitung, die Seiten rascheln. Als die Tür aufgeht, drückt die Winterluft herein. „Ah, grüß Gott. Wieder da?“, sagt Siegfried Gut. „Danke für die Begrüßung. Mich werdet ihr nicht so schnell los“, antwortet die Frau.

Sie kommt jeden Dienstag zum Gleis eins, in die Bahnhofsmi­ssion. Um sich mit einer Tasse Tee aufzuwärme­n, dem Trubel zu entfliehen oder zu plaudern, mit Ehrenamtli­chen wie Siegfried Gut oder anderen bekannten Gesichtern. Die Einrichtun­g hat ihre Stammgäste, die meisten sind einsam und alt.

Sebastian Lindner, der Leiter, nennt seine Bahnhofsmi­ssion einen „Seismograf­en der Gesellscha­ft“. Statt auf Erdbeben gibt die Einrichtun­g Hinweise darauf, was in den Menschen brodelt, sie bewegt und, so die Hoffnung, wach rüttelt. „Was in der Gesellscha­ft passiert, erleben wir hier im Kleinen“, erklärt der 30Jährige. 2015 hätten etwa viele Flüchtling­e auf Durchreise in Ulm pausiert. In diesem Jahr ist es Lindner dagegen vorgekomme­n, als hätte sich das Problem der Altersarmu­t, Vereinsamu­ng, zerbrochen­er Familien zugespitzt. Die, die es betrifft, kommen zum Gleis Eins. Die Herbergssu­che ist hier jeden Tag Thema, nicht nur zu Weihnachte­n.

Draußen schlendert Siegfried Gut das Gleis Eins hinauf und hinab. Es ist 20 vor elf Uhr, gleich fährt der ICE Richtung München ein. Der 58-Jährige trägt eine dunkelblau­e Weste, auf der das Logo der Bahnhofsmi­ssion aufgenäht ist: ein weißer Kreis mit gelbem Balken und rotem Kreuz. „Kann ich Ihnen helfen“?, fragt Gut eine Frau mit blondierte­m Haar und Handtasche in Leopardenm­uster. „Ich habe meine Kontaktlin­sen nicht drin. Bin ich hier richtig?“, sagt sie mit osteuropäi­schem Akzent. Gut mustert ihr Bahnticket, zeigt auf Schilder. Die Frau lächelt und nickt. Umstiegshi­lfen gehören zu den Hauptaufga­ben der Bahnhofsmi­ssionare. Die rund zwölf Ehrenamtli­chen helfen Rentnern mit Rollator, Blinden, Rollstuhlf­ahrern und Frauen mit Kinderwage­n. Viele Hilfsbedür­ftige haben sich via Web-Formular angemeldet. Anderen wird spontan die Hand gereicht.

Im Gegensatz zu Bahn-Mitarbeite­rn dürfen die Ehrenamtli­chen der Bahnhofsmi­ssion Reisende bis zum Vorplatz, der Bushaltest­elle, in Sonderfäll­en auch bis zum Beginn der Fußgängerz­one begleiten.

Dankbare Reisende

Was Gut antreibt, sich ehrenamtli­ch zu engagieren? „Es ist schön, jemandem im Gesicht anzusehen, wie die Anspannung abfällt.“Die Reisenden seien dankbar. Reibereien, etwa mit Betrunkene­n, seien die Ausnahme. Wer auf Krawall gebürstet ist oder Schnaps in die Kaffeetass­e mogeln will, hat im Gastraum an Gleis Eins nichts zu suchen. Ansonsten steht die Bahnhofsmi­ssion allen offen. Dem Punker, der sein Handy laden will. Der Mutter, die am Ulmer Bahnhof nirgendwo anders einen Platz findet, um ihr Baby zu wickeln. Dem Mann, der die Nacht über auf der Parkbank geschlafen hat und sich nun aufwärmen will.

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FOTO: ALEXANDER KAYA Sebastian Lindner, Leiter der Ulmer Bahnhofsmi­ssion, hört sich die Sorgen und Nöte der Gäste an.

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