Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ferngläser der besonderen Art
Mit der VR-Brille zu Sehenswürdigkeiten und Traumstränden reisen
Spätestens heute ist traditionsgemäß der Tag und die Gelegenheit, ein wenig in die Zukunft zu schauen. Was wird das Jahr 2017 bringen? Manche schwören dabei auf das rituelle Bleigießen am Silvesterabend, andere würden gerne durch die magische Glaskugel in die Zukunft blicken. Zugegeben, der Vergleich hinkt etwas: Aber die Wort-Kombination „schauen“und „Zukunft“trifft auch auf die VR-Brille zu. VR steht für VirtualReality (virtuelle Wirklichkeit) und bezeichnet Ferngläser der besonderen Art. Mit ihnen kann man zwar nicht in die Zukunft schauen, aber sie werden in Zukunft unseren Blick auf bestimmte Dinge mindestens verändern. Auch in Sachen Urlaub.
Miriam Bühler hat so gar nichts von einer Wahrsagerin an sich. Ihr langes Haar ist blond, ihre Kleidung eher geschäftsmäßig denn wild-romantisch. Ihr Werkzeug gleicht auch nicht einer Kristallkugel. Es ist eine geschlossene, große schwarze Brille mit breitem Gummiband, die künftig vielleicht die Kataloge der Reiseveranstalter ersetzen wird. Im Moment dient die VR-Brille – genannt Virtual Travel Lounge 360 – in Reisebüros vor allem einem: Lust auf Urlaub zu machen, Emotionen hervorzurufen und Eindrücke zu vermitteln.
Der erste Wow-Effekt stellt sich sofort ein. Der VR-Brillen-Träger steht plötzlich in Havanna auf der berühmten Plaza de Cathedral. Er schaut nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, dreht sich einmal um sich selbst und hat das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, sich im Zentrum der historischen Gebäude zu befinden. Die 360-Grad-Perspektive macht’s möglich. Wer genug vom Sightseeing in der Stadt hat, steuert mit seinen Augen den sogenannten Focus-Point an, bedient allein durch seinen Blick das einfache Menü und wird so in Sekundenschnelle an einen kubanischen Sandstrand gebeamt. Hier stellt sich die Szenerie folgendermaßen dar: Beim Blick nach vorne tut sich das blaue karibische Meer auf, beim Blick nach oben der nicht minder blaue Himmel, unten liegt der feine Sandstrand und im Rücken stehen grüne Palmen. Strandfeeling pur – im Dezember bei Nebelwetter mitten in Wangen.
Diese VR-Brille macht tatsächlich Lust auf Reisen, lädt zum Beispiel zu einer Tour durch Italien ein, die in den Dolomiten beginnt, über den Gardasee, Florenz und die Toskana weit in den Süden nach Capri und Pompeji führt, aber nicht länger als fünf Minuten dauert. Selbst ein schneller Abstecher auf den Mars ist virtuell möglich. Überflüssige Spielerei?
Bühler widerspricht. Schon so mancher Kunde habe sich tatsächlich dank der VR-Brille für ein bestimmtes Reiseziel entscheiden, obwohl er noch gar keine konkreten Vorstellungen von seinem nächsten Urlaub gehabt hatte. Virtual Reality hilft auch ganz konkret bei der Buchung, zum Beispiel einer Kreuzfahrt. Dank der Datenbrille kann der künftige Passagier verschiedene Schiffe besuchen, vom Pooldeck ins Restaurant schlendern, Suiten, unterschiedliche Kabinen samt Badezimmer oder den Spa-Bereich besichtigen. Das alles können Fotos auch. Doch der 360-Grad-Rundumblick vermittelt eben das Gefühl, tatsächlich auf dem Schiff oder im Hotel herumzuspazieren. In manchen Fällen gibt es sogar bewegte Bilder.
Doch noch stößt die virtuelle Reise an Grenzen. Wenn der Kunde zum Beispiel wünscht, einzelne Inseln der Malediven zu besuchen, um den vermeintlich schönsten Strand zu finden, muss Bühler passen. Die VRWelt ist noch klein. Etwa 50 Länder, 30 Kreuzfahrtschiffe und nochmal so viele Hotels können derzeit virtuell besucht werden. „Aber das Programm wird ständig weiterentwickelt“, erklärt sie.
Die virtuelle Welt ist klein
Der Reiseveranstalter Thomas Cook treibt dies besonders voran. Er will 880 seiner Reisebüros in Deutschland mit VR-Brillen ausstatten. „Die Brillen sind ein weiteres Instrument für die Reisebüromitarbeiter, um ihre Kunden im Beratungsgespräch zu begeistern“, sagt Geschäfstführer Carsten Seeliger. Um die virtuelle Welt möglichst schnell wachsen zu lassen, sollen Thomas-Cook-Mitarbeiter während ihrer Reisen Videos für das VR-Programm produzieren.
Inwieweit ein virtuelles Erlebnis die Kaufentscheidung der Kunden tatsächlich beeinflusst, weiß noch niemand. Entsprechende Untersuchungen laufen. 3-D-Forscher Dmitri Popov weiß: „Der ganze Markt wartet auf diese Zahlen.“
Das Alltours-Reisebüro in Wangen ist bislang eines der wenigen in der Region, das seinen Kunden den 360-Grad-Blick in die große weite Welt ermöglicht. Die zwei Jungs, die auf ihre Mutter warten, die Brille kurz mal testen und damit auf Großstadttrip gehen, finden dieses spezielle Erlebnis „voll cool!“. Doch auch ältere Kunden lassen sich laut Bühler dafür begeistern. „Man muss sie halt etwas an die Hand nehmen.“Das meint die junge Frau wortwörtlich. Die virtuelle Welt kommt der realen nämlich sehr nahe. Da kann man schon mal vergessen, dass sich Körper und Sinne im Moment an ganz unterschiedlichen Orten befinden.
Außerdem ist die Bewegungsfreiheit im Reisebüro doch ziemlich eingeschränkt. Der VR-Reisende will ja anderen, normalen Kunden nicht in die Quere kommen. Oder sich im Kabel verheddern. Denn die Brille ist mit einem PC-Bildschirm verbunden, auf dem Miriam Bühler die Reise ihrer Kunden mitverfolgen, lenken und entsprechende Anweisungen geben kann. Und tatkräftig eingreifen kann, falls der Kunde zu sehr in die virtuelle Welt abtaucht.