Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Fremd im Land der Väter
Russlanddeutsche gelten als gut integriert und unauffällig, seit der Flüchtlingskrise ist plötzlich alles anders
01.03.
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck wird von der Berliner Polizei mit Drogen erwischt. Die Staatsanwaltschaft stellt ihre Ermittlungen im April ein.
In Backnang wird die Betreiberin eines Asia-Restaurants tot aufgefunden.
Nach Slowenien, Kroatien und Serbien schließt auch Mazedonien die Grenzen und damit die Balkanroute für Flüchtlinge.
Die Medizinische Hochschule Hannover entscheidet, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ihren Doktortitel behalten darf.
Die Europäische Zentralbank (EZB) senkt den Leitzins auf das Rekordtief null Prozent, um die geringe Inflationsrate zu steigern.
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, RheinlandPfalz und Sachsen-Anhalt werden die bisherigen Koalitionen abgewählt. Die Alternative für Deutschland (AfD) wird auf Anhieb überall zweistellig. CDU und SPD erleiden Niederlagen, die Grünen in BadenWürttemberg haben ein Rekordergebnis. Dort wird eine Koalition aus Grünen und CDU gebildet, in Rheinland-Pfalz eine SPD/FDP/ Grünen-Regierung, in SachsenAnhalt ein CDU/SPD/GrünenKabinett.
Per Ministererlaubnis gestattet Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) dem Handelsriesen Edeka, gegen Auflagen die Lebensmittelkette Kaiser’s Tengelmann zu übernehmen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf stoppt den Deal.
Die Türkei verpflichtet sich in einem Abkommen mit der EU, illegal in die EU eingereiste Flüchtlinge aus Syrien zurückzunehmen. Die EU stellt dafür Milliardenhilfen und eine Aufhebung der Visumpflicht für Türken in Aussicht.
In Brüssel töten drei islamistische Selbstmord-Attentäter in einem U-Bahnhof im Europaviertel und am Flughafen Zaventem 32 Menschen. Die Terrormiliz Islamischer Staat bekennt sich zu dem blutigsten Terrorakt in Belgien.
Der frühere bosnische Serbenführer Radovan Karadzic wird vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Er sei einer der Hauptschuldigen am Massaker von Srebrenica im Jahr 1995.
„Panama Papers“: „Süddeutsche Zeitung“und Medien in aller Welt veröffentlichen Millionen Dokumente eines Finanzdienstleisters in Panama. Danach wurden mithilfe von Banken 215 000 Briefkastenfirmen gegründet, um Steuern zu vermeiden.
Ein Streit im Rockermilieu steckt hinter den Schüssen auf zwei Männer in Heidenheim. Ein 29-Jähriger stirbt, der mutmaßliche Täter kommt vor Gericht.
Der US-Finanzkonzern Goldman Sachs muss eine Strafe von 5,1 Milliarden Dollar wegen unsauberer Geschäfte mit Immobiliendarlehen zahlen.
Im Abgas-Skandal einigen sich Volkswagen und die US-Regierung darauf, dass VW einen Großteil der betroffenen Dieselfahrzeuge zurückkauft und Schadenersatz an die Besitzer zahlt.
In New York unterzeichnen 175 Länder den Pariser Klimavertrag. Durch geringere Treibhausemissionen soll der weltweite Anstieg der Temperatur auf deutlich unter zwei Grad gesenkt werden.
Im ersten Anlauf der Präsidentenwahl in Österreich liegt Norbert Hofer von der rechtspopulistischen FPÖ mit gut 35 Prozent der Stimmen deutlich vor dem Grünen Alexander Van der Bellen (21 Prozent).
Bei Luftangriffen auf die syrische Stadt Aleppo kommen mindestens 50 Menschen ums Leben. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen spricht von allein 14 Toten in einem Hospital.
04.03. 09.03. 09.03. 10.03. 13.03. 17.03. 18.03. 22.03. 24.03. 03.04. 07.04. 11.04. 21.04. 22.04. 24.04. 28.04.
- Russland in Wiblingen ist rund 100 Quadratmeter groß. Hier, versteckt im Erdgeschoss einer Plattenbaukaserne, regieren Weiß-Blau-Rot und das kyrillische Alphabet, sogar eine russischsprachige Literaturabteilung gibt es in dem kleinen Supermarkt. Die ist so bunt und uneinheitlich wie die multinationale Kundschaft: Eine illustrierte Ausgabe des Neuen Testaments liegt dort neben einem martialisch bebilderten Leitfaden zur „Terror-Abwehr“und einer Einführung in den Buddhismus. Darüber hängen elektrisch animierte Wandbilder von Sandstränden und windschiefen Blockhütten. Alles wirkt irgendwie bunt und schrill, Nichtrussen würden wohl sagen: kitschig.
Der Herr über den russischen Mikrokosmos heißt Alexander Meier, ein freundlicher Mann mit weißen Haaren und schwarzem Schnauzer. Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion kam der studierte Elektroingenieur aus Kasachstan nach Deutschland, seit 1997 verkauft er im „Universam“eingelegte Fassgurken, FertigBorschtsch und russisches Konfekt, nebenbei nimmt er auch Pakete für die russische Post an und vermittelt Bus- und Flugreisen. Meier gibt sich aufgeschlossen, ist offensichtlich gut informiert über die deutsche Politik. Vor ein paar Jahren saß er noch im Ortsvorstand der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland; die Wiedervereinigung und Helmut Kohls Aussiedlerpolitik nennt er „einen großen Sieg“. Die Merkel-CDU aus dem Jahr 2016? Erkenne er nicht wieder. Über die AfD möchte sich Meier allerdings ungern öffentlich äußern. Zu seinen Kunden zählen schließlich nicht nur Russlanddeutsche, sondern auch Türken, Albaner, Rumänen. „Politik ist schlecht fürs Geschäft“, sagt Meier und lacht.
Jeder Dritte wählt hier die AfD
Eine klare Sprache spricht dagegen das Ergebnis der Landtagswahl in der ehemaligen CDU-Hochburg: Im Schulzentrum beim Tannenplatz, unweit von Meiers Supermarkt, hat fast jeder Dritte seine Stimme der AfD gegeben – der höchste Wert in ganz Wiblingen und gut 16 Prozent über dem Ulmer Schnitt. Vor fünf Jahren machten in demselben Wahllokal noch gut 40 Prozent ihr Kreuz bei der CDU. Jetzt ist die alte Aussiedler-Partei in Böfingen und Wiblingen, beides Stadtteile mit einem hohen Anteil an Russlanddeutschen unter den Bewohnern, auf teilweise unter 15 Prozent abgesackt. Das Ergebnis passt ins Bild: In einer der größten Aussiedlergemeinden Deutschlands, dem Pforzheimer Stadtteil Haidach, holte die AfD sogar ganze 43 Prozent der Stimmen.
In keinem zweiten Ulmer Stadtteil leben so viele Deutsche mit Migrationshintergrund wie in Wiblingen. Wie viele Russlanddeutsche darunter sind, weiß allerdings niemand so genau. Bundesweit wird deren Zahl mal auf drei, mal auf sechs Millionen geschätzt. Fest stand bislang nur: Russlanddeutsche haben sich laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge „geräuschlos“in ihre neue Heimat eingelebt. Zweitens: Wahlkampf können sich alle Parteien getrost sparen. Denn die Nachfahren der deutschen Siedler in Russland wählten ohnehin schwarz – aus Dankbarkeit gegenüber Helmut Kohl, der sie 1990 in einer großen patriotischen Geste zurück ins Land der Väter rief. Beide Gewissheiten, die geräuschlose Integration sowie die immerwährende Parteipräferenz für die CDU – in der Flüchtlingskrise geraten sie ins Wanken. Denn seit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht wurden die Stillen plötzlich laut. Der „Fall Lisa“, eines angeblich von muslimischen Flüchtlingen vergewaltigten russlanddeutschen Mädchens aus Berlin, führte bundesweit zu empörten Reaktionen. Russische Medien hatten zuvor ausführlich darüber berichtet. 20 zeitgleiche Anti-Flüchtlings-Demos gab es im Südwesten, allein vor der Ellwanger Landeserstaufnahmestelle machten rund 500 Spätaussiedler ihrem Ärger Luft. Sogar Russlands Außenminister Lawrow schaltete sich in den Konflikt ein und reklamierte den Schutz „unserer Lisa“– eine verkehrte Welt für die Russlanddeutschen, die sich noch vor wenigen Jahren als natürliche Schutzbefohlene der Christdemokraten sahen. Inzwischen ist klar: Die Vergewaltigung hat es nie gegeben, Lisa hatte einvernehmlich Sex mit zwei türkischstämmigen Erwachsenen, ihre Eltern – das kann man in amtlichen Mitteilungen nachlesen – sind Pegida- und NPD-Anhänger.
Alexander Meier vom russischen Supermarkt jedenfalls traut weder den russischen noch den deutschen Medien. Er sagt: „Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.“Der Ulmer Stadtrat Michael Joukov bezweifelt denn auch, dass der als russische Propagandakampagne entlarvte Fall die erhitzten Gemüter beruhigen kann. Denn am grundsätzlichen Problem ändere sich nichts: Eine Minderheit von Russlanddeutschen hat immer noch keinen Zugang zur deutschen Mehrheitsgesellschaft und fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Schlechte Deutschkenntnisse führten außerdem dazu, dass die Abgehängten häufiger russische als deutsche Medien konsumierten. „Und dort bekommen sie nicht selten den Eindruck vermittelt, Deutschland stehe angesichts der vielen Flüchtlinge am Rande eines Bürgerkriegs.“
Autoritätsbedürftig, Putin-hörig?
Joukov ist Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im Ulmer Stadtrat und selbst in Russland geboren. Seine Eltern wohnen noch heute in einem der vielen Wiblinger Hochhäuser. Dabei sieht er mit seinem sorgfältig gebügelten Hemd und der dicken Zigarre, die er ständig bei sich trägt, gar nicht aus wie ein typischer Grüner – und redet auch nicht so. Bei einem Rundgang durch Wiblingens PlattenbauLabyrinth fallen Sätze wie: „Hier wohnen eher die klassischen Hartzer“und: „Wer in Deutschland lebt, hat Deutsch zu sprechen“. Joukov sagt, er sei ein Mann der klaren Worte. Und als solcher hat er auch wenig Hemmungen, mit seinen ehemaligen Landsleuten hart ins Gericht zu gehen. Vor allem die Älteren seien das Problem, bei den Jüngeren funktioniere die Integration meist über das deutsche Bildungssystem. „Man darf nicht vergessen, dass die Russlanddeutschen aus einem Obrigkeitsstaat kommen. In Deutschland hatten sie die Erwartung, dass ein gütiger Herrscher alles für sie regeln würde. Als diese dann enttäuscht wurde, wandten sich viele von unserem Staatsmodell ab.“Der ideale Nährboden für die Ideen einer Protestpartei.
Tatsächlich sympathisieren nicht wenige bei der AfD offen mit dem vom Westen mit Wirtschaftssanktionen abgestraften Russland. Markus Frohnmaier aus Villingen-Schwenningen zum Beispiel. Auf seinem Twitter-Account gibt sich der Bundesvorsitzende der Jungen Alternative als umtriebiger Politik-Profi: Maßanzug, iPhone am Ohr, der Blick auf die Uhr gerichtet, im Hintergrund die Umrisse einer Oberklassen-Limousine. Sein Twitter-Account gleicht einem Poesiealbum der deutsch-russischen Freundschaft: Auf Fotos ist vor allem er zu sehen, wie er russischen Unternehmern und Politikern stolz die Hand schüttelt und in die Kamera lacht. Ein weiteres Bild zeigt einen Bären und einen Wolf unter einer schwarz-rot-goldenen Flagge, die nach der Hälfte die Farben der russischen Trikolore annimmt. Daneben steht: „niemals gegeneinander“. In anderen Worten: immer zusammen gegen den gemeinsamen Feind. Und der heißt vor allem Europäische Union. CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter etwa vermutet ANZEIGE schon lange, dass der Kreml rechtspopulistische Parteien wie die AfD direkt oder indirekt finanziell unterstützt. Jetzt will auch die Bundesregierung verstärkt gegen russische Spionage, Propaganda und Desinformation in Deutschland vorgehen. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“hatte sie den Chefs von Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz einen entsprechenden Auftrag erteilt. Die Russlanddeutschen, die einst Helmut Kohl zurück ins Land der Väter holte – haben sie sich tatsächlich von den angeblich „besseren Deutschen“– fleißig, ordentlich und konservativ – zu Agenten Putins gewandelt?
Dunkle Kindheitserinnerungen
Junge Russlanddeutsche wie Christine Sedusow zählen jedenfalls weder zur einen noch zur anderen Kategorie. Die 26-Jährige lebt seit fast zwei Jahrzehnten hier, ging in Wiblingen aufs Gymnasium, hat deutsche Freunde, wählt SPD. Mit ihrer alten Heimat verbindet sie kaum noch etwas; geblieben sind ihr ein paar dunkle Kindheitserinnerungen an lange Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften und gefälschte westliche Lollis aus Seife.
Russisch spricht sie nur noch selten – im Gegensatz zu ihrer deutschstämmigen Mutter und ihrem russischen Vater. Die lehnen Merkels Flüchtlingspolitik genauso ab wie die Asylbewerberunterkunft, die in ihrer Nachbarschaft entstehen soll. „Auf Familienfeiern ist die Flüchtlingskrise das beherrschende Thema“, erzählt die junge Krankenschwester. Immer wieder würden dort Parallelen zur eigenen Flüchtlingsgeschichte gezogen – allerdings nicht, um sich mit den Geflohenen zu identifizieren, sondern um sich von ihnen abzugrenzen: Sie, die Russlanddeutschen, hätten in der alten Heimat jahrelang auf einen „Registrierschein“warten müssen, die Araber hingegen kämen einfach über die Grenze gelaufen und hätten umgehend Anspruch auf Sozialleistungen – Diskussionen, die in ähnlicher Form auch vor 25 Jahren geführt wurden.