Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Amok im Kopf
Ein psychisch kranker 18-Jähriger erschießt in München neun zumeist junge Menschen
- Gaffen macht eigentlich nur Sinn, wenn es etwas zu sehen gibt. In der Hanauer Straße in München gibt es am Samstag nichts zu sehen und doch sind sie alle gekommen. Anwohner, Touristen und Journalisten aus aller Welt drängen sich hinter einem Absperrband zusammen und starren ungläubig die Straße hinunter. Kollektives Gaffen, kollektive Schockstarre.
Ein 18-Jähriger schoss hier um sich, zunächst vor einer McDonald’sFiliale, dann gegenüber im belebten Olympia-Einkaufszentrum. 14, 15, 17, 19, 20 – die meisten der neun Todesopfer sind Jugendliche. Mindestens 35 weitere Menschen werden verletzt, zehn von ihnen schwer. Anschließend richtet David S. seine Waffe – eine Glock 17 neun Millimeter – gegen sich selbst. Am 22. Juli 2016.
Vorbild Breivik
1600 Kilometer entfernt liegt die norwegische Insel Utøya. Auf den Tag genau vor fünf Jahren, am 22. Juli 2011, tötete der Amokläufer Anders Behring Breivik dort 77 Menschen, die meisten davon Kinder und Jugendliche. Dass David S. an diesem Jahrestag in München mordete und dabei offensichtlich ebenfalls junge Menschen ins Visier nahm – die Polizei glaubt nicht an einen Zufall.
Die, die am Tag danach an den Tatort kommen, sie sehen nichts, sie können die Tat auch nicht fassen. Die Straße, die zehn Toten, das Unglaubliche scheint Moosach in zwei Welten zu trennen, hier das OEZ, da die Wohnsiedlungen gegenüber. „Es war furchtbar und es hat mich so sehr erschüttert“, erzählt eine Anwohnerin, vom Küchenfenster aus habe sie den Großeinsatz verfolgt und „alles gehört“.
Am Morgen ist die Frau auf dem Weg in die Apotheke – der einzige Laden in der Nähe des OEZ, der am Tag nach der Tat seine Türen öffnet. Kranke brauchen immer Hilfe. Das Café gegenüber: geschlossen, der Obst- und Gemüsestand: verwaist, die U-Bahn-Station: gesperrt. In einer Praxis über der Apotheke habe sie gestern dringend den Augenarzt aufsuchen müssen, erzählt die ältere Frau weiter, ansonsten wäre sie auch im OEZ gewesen, da gäbe es schließlich immer was zu erledigen.
Viele denken so, Moosach ist ein Stadtteil mit viel Durchgangsverkehr, die meisten kommen vom Mittleren Ring und wollen direkt ins Einkaufszentrum. 135 Läden locken hier. Auch der Täter scheint seine Opfer angelockt zu haben, vor der Tat legte er sich ein falsches Facebook-Profil zu, versprach dort, im OEZ etwas auszugeben – eine tödliche Falle. Noch im McDonald’s erschießt er erste Menschen, dann überquert er die Straße und knallt im Einkaufszentrum um sich. Als die Polizei ihm auf den Fersen ist, erschießt er sich selbst. In einem roten Rucksack hatte er Munition für weitere 300 Schüsse dabei. Am Tag danach sichern bewaffnete Polizisten den Eingang, Stellwände verhindern den Blick auf den Tatort. Das OEZ: geschlossen.
Acht Kilometer entfernt liegt der Stachus – das Tor zu einem weiteren Einkaufszentrum der Münchner: der Kaufingerstraße. Normalerweise schieben sie sich hier dicht gedrängt über den Platz, aber an diesem Samstag braucht die Stadt ein wenig länger, um aufzuwachen, um die Ereignisse zu verdauen. Auch am Stachus und auf dem Gelände des TollwoodFestivals im Olympiapark soll geschossen worden sein – so war es zunächst im Internet und später auch auf vielen Nachrichtenseiten zu lesen. Doch die Meldungen erwiesen sich, wie so viele an diesem Abend, als falsch. Mehr als 4000 Notrufe setzen die Münchner in den Stunden der Angst ab, normal sind laut Polizei an einem Freitagabend etwa 1000. Doch München und das Internet waren in der Nacht regelrecht in Panik. Amoklauf, Attentat, Terror, IS-Anschläge – die Gerüchte gingen Hand in Hand und drunter und drüber. Stundenlang war von drei Tätern die Rede, selbst die Polizei sprach davon, doch offenbar gab es eine Verwechslung mit zivilen Polizisten oder Bürgern, die sich rennend in Sicherheit brachten.
Parallel zum überbordenden Chaos im Netz kam es in der Stadt zu einem nie gesehenen Polizeieinsatz: 2300 Beamte auf den Straßen, zahlreiche Hubschrauber am Himmel, die Spezialeinheit GSG-9 im Anmarsch. Der Hauptbahnhof wurde evakuiert, der Nahverkehr stand still, Anwohner wurden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen.
Noch in der Nacht dann die Entwarnung. Ein Einzeltäter, tot aufgefunden – auf Twitter informiert die Münchner Polizei. Wer die ganze Nacht live im Netz dabei war, wusste als Erster Bescheid. Eine Stadt, ein ganzes Land und das Ausland noch dazu, atmete erleichtert auf. David S. – ein Einzeltäter, seine Tat ein Amoklauf – dass diese Nachricht Millionen Menschen mehr zu beruhigen statt zu beunruhigen schien, sagt viel über das kollektive Angstempfinden, das derzeit herrscht. Angst treibt Terror an und ob es ein Terrorakt, ein IS-Anschlag oder ein Amoklauf war, darüber spekulierten Medien und Münchner stundenlang. Die Bilder und Videos, die sie eilig ins Netz stellten, sie entstanden auch, weil alle noch andere Bilder im Kopf haben – die von Paris vor einem halben Jahr, die von Nizza vor einer Woche, die von Würzburg vor wenigen Tagen.
Doch der Schütze von München habe keinerlei Beziehung zum Islamischen Staat, berichtet die Polizei. Der 18-Jährige ging in München zur Schule, hatte einen deutschen und einen iranischen Pass. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fanden sich Zeitungsartikel, die sich mit Amokläufen befassten, dazu ein Buch mit dem Titel „Amok im Kopf: Warum Schüler töten“. Der Täter war in psychologischer Behandlung, litt offenbar an Depressionen. Mit seinen Eltern lebte David S. in der Maxvorstadt
Die Opfer sind Opfer
Die Opfer sind Opfer, gleich ob die Tat politisch oder religiös motiviert oder der Täter psychisch krank war. Ihrer gedachten die Münchner am Nachmittag am Ort der Tat – als der Platz vor dem Olympia-Einkaufszentrum wieder frei zugänglich war, versammelten sich Hunderte, um ihre Anteilnahme auszudrücken.
Im Netz wurden die selbst ernannten Ermittler mit den Stunden ruhiger, während die Stadt zeitgleich das Leben wieder aufnahm. Ob sich die zwei Touristinnen aus dem Allgäu heute Sorgen machen? „Nicht mehr als sonst.“Ob der eingesessene Münchner glaubt, dass sich die Stadt verändert? „Das Leben hier wird normal weitergehen.“
Die gesunde Unruhe einer Großstadt, die sich am Samstag verbreitete, war ein Zeichen der Ruhe, zu der München versucht, zurückzukehren.