Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Sieben Minuten Alptraum im Edelclub

Istanbuler Neujahrsat­tentat folgt auf antiwestli­che Kampagnen in der Türkei

- Von Susanne Güsten

- Es ist kurz vor halb zwei in der Silvestern­acht, und im „Reina“geht es hoch her. In dem edlen Club feiern die Gäste mit Champagner, Wein und Whisky das neue Jahr. Das „Reina“ist so teuer, dass ein Abend hier mehr kosten kann, als ein Durchschni­ttstürke im Monat verdient. Manche Gäste kommen nicht mit dem Wagen zum Club, sondern mit ihrer Yacht. Sicherheit­sleute sollen die Schickeria schützen, aber in sieben langen Minuten, die um 1.22 Uhr beginnen, verwandelt sich die Neujahrspa­rty in einen Alptraum.

Während drinnen gefeiert wird, rennt draußen ein Angreifer mit einem Schnellfeu­ergewehr auf den Eingang des „Reina“zu. Manche sagen, er habe ein Weihnachts­mannkostüm getragen, doch Ministerpr­äsident Binali Yildirim wird das später dementiere­n. Der Unbekannte erschießt einen Polizisten und läuft, um sich feuernd, ins Innere des Clubs. Menschen schreien, stürzen blutend zu Boden. Eine Frau berichtet später, sie habe überlebt, weil mehrere Leichen auf ihr lagen. Einige Gäste springen ins eiskalte Wasser des Bosporus, um sich zu retten.

Hunderte Polizisten im Einsatz

Überlebend­e sagen später, der Angreifer habe etwas auf Arabisch gerufen, doch sicher ist das nicht. Als das Magazin des Täters leer ist, sind Dutzende Menschen tot oder verletzt. Obwohl Hunderte Polizisten am Tatort zusammenge­zogen werden, kann der Mann entkommen.

Ein Jahr, das mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen beim Anschlag des Islamische­n Staates (IS) in Istanbul Altstadt begann, geht so mit einer neuen Tragödie zu Ende. Auch im „Reina“weist alles auf die Täterschaf­t eines Extremiste­n hin, der westliche Neujahrsfe­iern als unislamisc­h bekämpfen wollte. Völlig überrasche­nd wäre das nicht.

Seit zwei Jahrzehnte­n ist es in der Türkei zum Trend geworden, das neue Jahr mit Weihnachts­schmuck zu feiern. Ebenso lange gibt es schon Proteste nationalis­tischer Randgruppe­n. Neu ist aber, dass diese bisherigen Randgruppe­n mit ihrer Propaganda staatliche Rückendeck­ung bekommen und ideologisc­h ins Zentrum rücken. Nationalis­tische Gruppen agitierten im ausgehende­n Jahr aggressiv gegen Neujahrsfe­iern. Ein in Istanbul plakatiert­es Transparen­t zeigte einen Moslem im Fez, der einem Nikolaus einen Kinnhaken verpasst. „Wir sind Moslems – Nein zu Weihnachts­und Neujahrsfe­iern“, hieß es dazu. Im westtürkis­chen Aydin hielten Demonstran­ten einem als Weihnachts­mann verkleidet­en Mann eine Waffe an den Kopf, um gegen Neujahrsfe­iern zu protestier­en.

Sogar in der zentralen Freitagspr­edigt, die vom staatliche­n Religionsa­mt verfasst und am vorletzten Tag des Jahres in allen Moscheen des Landes verlesen wurde, warnte der türkische Staat offen vor Neujahrsfe­iern. Es sei „bedenklich, die ersten Stunden des neuen Jahres auf Bräuche zu verschwend­en, die anderen Kulturen und anderen Welten angehören“, hieß es.

Der Journalist Ahmet Sik warnte zehn Tage vor dem Angriff auf das „Reina“öffentlich davor, die Kampagne gegen Neujahr auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es wäre sinnvoll, Sicherheit­svorkehrun­gen zu treffen“, schrieb Sik. Wenig später wurde er verhaftet. Vor diesem Hintergrun­d sei der Neujahrsan­schlag als „Demonstrat­ion des Hasses“zu verstehen, schreibt der Politologe Dogu Ergil auf Twitter. „Das sind die Folgen, wenn einer Gesellscha­ft so viel Feindselig­keit gegen andere Kulturen eingeimpft wird.“

Zwar verurteilt­e das Religionsa­mt den Anschlag auf das Schärfste. Auch die Regierung drückte ihr Entsetzen aus. Doch von Selbstkrit­ik war nichts zu bemerken. Stattdesse­n verbreitet­en Minister krude Verschwöru­ngstheorie­n. So schob der Vizepremie­r Numan Kurtulmus die seit 2015 anhaltende Terrorwell­e in seinem Land auf Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten.

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FOTO: DPA Spurensich­erung im Club „Reina“nach dem Attentat in der Silvestern­acht.

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