Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Sieben Minuten Alptraum im Edelclub
Istanbuler Neujahrsattentat folgt auf antiwestliche Kampagnen in der Türkei
- Es ist kurz vor halb zwei in der Silvesternacht, und im „Reina“geht es hoch her. In dem edlen Club feiern die Gäste mit Champagner, Wein und Whisky das neue Jahr. Das „Reina“ist so teuer, dass ein Abend hier mehr kosten kann, als ein Durchschnittstürke im Monat verdient. Manche Gäste kommen nicht mit dem Wagen zum Club, sondern mit ihrer Yacht. Sicherheitsleute sollen die Schickeria schützen, aber in sieben langen Minuten, die um 1.22 Uhr beginnen, verwandelt sich die Neujahrsparty in einen Alptraum.
Während drinnen gefeiert wird, rennt draußen ein Angreifer mit einem Schnellfeuergewehr auf den Eingang des „Reina“zu. Manche sagen, er habe ein Weihnachtsmannkostüm getragen, doch Ministerpräsident Binali Yildirim wird das später dementieren. Der Unbekannte erschießt einen Polizisten und läuft, um sich feuernd, ins Innere des Clubs. Menschen schreien, stürzen blutend zu Boden. Eine Frau berichtet später, sie habe überlebt, weil mehrere Leichen auf ihr lagen. Einige Gäste springen ins eiskalte Wasser des Bosporus, um sich zu retten.
Hunderte Polizisten im Einsatz
Überlebende sagen später, der Angreifer habe etwas auf Arabisch gerufen, doch sicher ist das nicht. Als das Magazin des Täters leer ist, sind Dutzende Menschen tot oder verletzt. Obwohl Hunderte Polizisten am Tatort zusammengezogen werden, kann der Mann entkommen.
Ein Jahr, das mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen beim Anschlag des Islamischen Staates (IS) in Istanbul Altstadt begann, geht so mit einer neuen Tragödie zu Ende. Auch im „Reina“weist alles auf die Täterschaft eines Extremisten hin, der westliche Neujahrsfeiern als unislamisch bekämpfen wollte. Völlig überraschend wäre das nicht.
Seit zwei Jahrzehnten ist es in der Türkei zum Trend geworden, das neue Jahr mit Weihnachtsschmuck zu feiern. Ebenso lange gibt es schon Proteste nationalistischer Randgruppen. Neu ist aber, dass diese bisherigen Randgruppen mit ihrer Propaganda staatliche Rückendeckung bekommen und ideologisch ins Zentrum rücken. Nationalistische Gruppen agitierten im ausgehenden Jahr aggressiv gegen Neujahrsfeiern. Ein in Istanbul plakatiertes Transparent zeigte einen Moslem im Fez, der einem Nikolaus einen Kinnhaken verpasst. „Wir sind Moslems – Nein zu Weihnachtsund Neujahrsfeiern“, hieß es dazu. Im westtürkischen Aydin hielten Demonstranten einem als Weihnachtsmann verkleideten Mann eine Waffe an den Kopf, um gegen Neujahrsfeiern zu protestieren.
Sogar in der zentralen Freitagspredigt, die vom staatlichen Religionsamt verfasst und am vorletzten Tag des Jahres in allen Moscheen des Landes verlesen wurde, warnte der türkische Staat offen vor Neujahrsfeiern. Es sei „bedenklich, die ersten Stunden des neuen Jahres auf Bräuche zu verschwenden, die anderen Kulturen und anderen Welten angehören“, hieß es.
Der Journalist Ahmet Sik warnte zehn Tage vor dem Angriff auf das „Reina“öffentlich davor, die Kampagne gegen Neujahr auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es wäre sinnvoll, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen“, schrieb Sik. Wenig später wurde er verhaftet. Vor diesem Hintergrund sei der Neujahrsanschlag als „Demonstration des Hasses“zu verstehen, schreibt der Politologe Dogu Ergil auf Twitter. „Das sind die Folgen, wenn einer Gesellschaft so viel Feindseligkeit gegen andere Kulturen eingeimpft wird.“
Zwar verurteilte das Religionsamt den Anschlag auf das Schärfste. Auch die Regierung drückte ihr Entsetzen aus. Doch von Selbstkritik war nichts zu bemerken. Stattdessen verbreiteten Minister krude Verschwörungstheorien. So schob der Vizepremier Numan Kurtulmus die seit 2015 anhaltende Terrorwelle in seinem Land auf Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten.