Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zitat des Tages
Norbert Nitsche gründet eine Selbsthilfegruppe für Eltern, denen ein Kind verstorben ist
Wir hatten dann furchtbare Angst, dass es wieder passieren könnte“, berichtet Norbert Nitsche, dessen Tochter am plötzlichen Kindstod starb, und der drei weitere Kinder hat.
- „Eltern, denen ein Kind verstorben ist, oder Kinder, die eine Schwester oder einen Bruder verloren haben, zerbricht das Herz.“Keiner weiß das besser als Norbert Nitsche aus Laupheim. 1988 starb seine Tochter mit sechs Monaten am plötzlichen Säuglingstod. Seither lässt ihn dieses Thema, dieses unendliche Leid der Betroffenen, nicht mehr los. Bald begleitet er in Oberholzheim eine Selbsthilfegruppe.
Norbert Nitsche ist Sonderschullehrer und am Schulamt in Biberach für den Bereich Sonderpädagogik zuständig. Er ist also kein Psychologe oder Psychotherapeut – und doch seit jenem Morgen vor 28 Jahren ein Experte in der Trauerarbeit von Eltern und Geschwistern nach dem Tod eines Kindes: „Unser Mädchen lag tot im Bett. Wir haben den Rettungsdienst angerufen, wenig später war der Notarzt da, der den plötzlichen Säuglingstod feststellte. Dann kamen Polizei und Staatsanwaltschaft, und auch ein Pfarrer. Zwei Stunden später war das Bettchen leer.“
Was dann folgte, war „eine furchtbare Zeit“, erzählt Nitsche. „Es gab keine Kriseninterventionsteams oder Notfallseelsorger, die Menschen in solchen Situationen unterstützten“, erinnert er sich. Man blieb allein mit dem leeren Bettchen und der Frage nach dem Warum. „Wir hatten damals noch zwei Töchter, und ein Jahr später bekamen wir noch einen Sohn. Wir hatten dann furchtbare Angst, dass es wieder passieren könnte“, berichtet Norbert Nitsche. „Wir hatten ein Alarmsystem installiert, das die Atmung des Kindes überwachte. Der Alarm ging immer wieder mal los, wenn das Kind etwas flacher atmete. Es waren schlimme Nächte.“
Männer und Frauen reagieren in solchen Fällen oft konträr, weiß Nitsche aus eigener Erfahrung: „Die Mütter ziehen sich häufig zurück und lassen die Gefühle zu. Väter gehen eher ins Handeln, um sich abzulenken.“Während seine Frau „wie gelähmt zu Hause saß“, ging er am Tag nach dem Tod seiner Tochter zum Bestatter und ließ sich „das aufgebahrte, schön hergerichtete Mädchen“zeigen, erzählt Norbert Nitsche. „In dem Moment war es eher gut für mich. Ein halbes Jahr später bin ich dann umgekippt.“Viele Paare, die unterschiedlich trauern, finden später wieder zusammen, „wenn der eine den anderen auf seine Art trauern lässt“. Bei den Nitsches klappte das nicht. Mit den Herzen zerbrach auch die Beziehung und schließlich die Ehe.
Doppelte Verlierer
Norbert Nitsche gründete bald eine Selbsthilfegruppe in seinem damaligen Wohnort Ulm – und wollte herausfinden, wie seine beiden anderen Töchter den Verlust ihrer Schwester erlebt hatten. „Ich ließ sie Bilder malen und schrieb selbst die Geschichte dazu“, erzählt er. Es entstand das Büchlein „Marie ist tot“, das die „Gemeinsame Elterninitiative Plötzlicher Säuglingstod (GEPS)“herausgegeben hat und Eltern helfen soll, mit ihren Kindern über den Tod zu sprechen. „Kinder gelten in solchen Fällen als die doppelten Verlierer – sie verlieren die Schwester oder Bruder, und oft auch ihre Eltern ein Stück weit“, sagt Nitsche. Er hat auch Vorträge zu diesem Thema gehalten. Einmal kam anschließend ein etwa 70jähriger Mann auf ihn zu und sagte: „Erst jetzt verstehe ich, warum meine Eltern vor 65 Jahren so distanziert waren. Sie hatten nicht die Kraft, sich um mich zu kümmern.“Studien hätten ergeben, dass betroffene Jugendliche besonders oft plötzlich schlechte Noten nach Hause bringen oder Ausbildung und Studium abbrechen.
Doktorarbeit zum Thema
Norbert Nitsche hat selbst eine empirische Untersuchung zu dem Thema angestellt und die Ergebnisse als Doktorarbeit unter dem Titel „Trauerarbeit von Eltern und Geschwistern nach dem Tod eines Schulkindes“veröffentlicht. „Ich war 14 Jahre lang als Lehrer in der Ulmer Universitätsklinik angestellt“, erzählt der 60-Jährige. „In dieser Zeit sind viele der schwer kranken Kinder, die ich unterrichtet habe, gestorben. Ich habe oft überlegt, wie geht es für die Eltern und Geschwister weiter? Im Krankenhaus kümmern sich viele um sie, aber zu Hause beginnt die schwierige Zeit.“Es reifte der Entschluss, darüber eine Doktorarbeit zu schreiben. „Es gibt dazu wenige Veröffentlichungen in Deutschland“, sagt Norbert Nitsche. Er befragte insgesamt 70 Eltern. Seine 231-seitige Dissertation fand überregionale Anerkennung. Das Werk wurde in der ZDF-Sendung „37 Grad“, aber auch in vielen anderen Veröffentlichungen zitiert.
„Vom Tod eines Kindes betroffene Eltern sind oft unglaublich einsam“, sagt Norbert Nitsche. „Auch, weil sich niemand traut, mit ihnen zu kommunizieren.“Er weiß das nicht nur aus den zahlreichen Recherchen und Gesprächen für seine Doktorarbeit und aus seiner Selbsthilfegruppe, sondern aus eigener Erfahrung. „Wir hatten Freunde, die sich nach dem Tod unserer Tochter kaum noch gemeldet haben. Als wir sie viel später mal getroffen, räumten sie ein: Sie wussten nicht, wie sie mit uns umgehen sollten.“
Trauer raubt den Atem
Die Isolation erschwert die ohnehin schon kaum erträgliche Situation für Eltern und Geschwister. Einen Arzt in Ulm fragte Norbert Nitsche einmal: „Kann ein Herz im wahrsten Sinn brechen?“Die Antwort lautete: „Ja, das kann es.“Nitsche berichtet von einer Frau, die vor lauter Trauer vergessen hat zu atmen. „Sie ist dann immer wieder die Treppe runtergefallen. Ein Atemtherapeut konnte ihr helfen.“Viele Eltern lassen jahrelang das Kinderzimmer unberührt oder legen sich dort ins Bett, weil es nach dem Kind riecht. Interessant sei auch dieses Ergebnis seiner Studien: Wer ein Kind nach einer langen Krankheit verliert, braucht im Durchschnitt sieben Jahre, um wieder Boden unter den Füßen zu haben – bei einem Unfall oder gar Mord dauert es doppelt so lange.
Besonders schlimm, weiß Norbert Nitsche, sind die Nächte. Um diese überstehen zu können, brauche es oft „viele Medikamente und eine gute ärztliche Betreuung“. Und wer oder was kann sonst noch hilfreich sein? „Die beste Seelsorge ist häufig das Gespräch mit ebenfalls Betroffenen“, sagt Nitsche. Dabei gehe es nicht nur um die Erkenntnis, nicht allein zu sein mit seinem Schmerz, sondern auch um wertvolle Ratschläge: „Ich sage bei meinen Treffen oder Vorträgen immer: Macht was in eurer Trauer, sitzt nicht herum. Viele zittern zum Beispiel vor Angst auf die Feiertage, den Todestag, den Geburtstag oder andere bedeutende Termine zu. Ich habe zu diesem Thema mal ein Abendseminar gehalten und dabei viele interessante Wege kennengelernt, damit umzugehen.“
Mit QR-Code lebt die Erinnerung
So kommt eine Familie, die einen 21Jährigen durch einen Autounfall verloren hat, jedes Jahr in der Weihnachtszeit für eine Stunde zusammen, denkt bei einem Glas Glühwein an den Verstorbenen und geht dann wieder auseinander. Eine Mutter berichtete, dass sie aus den Kleidern des verstorbenen Kindes PatchworkDecken für die drei Geschwister genäht hat. Und Nitsche erzählt von einer Familie, die am Grabstein des Kindes einen QR-Code angebracht hat. „Wenn man den mit dem Smartphone scannt, sieht man einen Film über das Kind. Das finde ich großartig.“
Solche Geschichten führten den heute 60-Jährigen letztlich zum Grundgedanken für seine Doktorarbeit: Warum fallen manche Menschen, die ein Kind verloren haben, ins Bodenlose, und warum wachsen manche daran? Er selbst, glaubt Norbert Nitsche, sei eher daran gewachsen. „Ich habe mein Talent entdeckt, solche Leute zu begleiten.“
Und doch muss auch er bisweilen um Fassung ringen. „Ich war kürzlich in Warthausen bei einem Gottesdienst für verwaiste Eltern“, erzählt Norbert Nitsche. „Als alle nach vorne gegangen sind, um eine Kerze auf den Altar zu stellen, musste auch ich fast weinen.“
Die Dokumentation in der ZDFSendereihe „37 Grad“, die auch auf die Ergebnisse der Doktorarbeit von Norbert Nitsche verweist, ist in der ZDF-Mediathek unter www.zdf.de/dokumentation/ 37-grad/das-zimmer-meinesbruders-wenn-geschwister-trauern-100.html abrufbar. Weitere Informationen zum Thema: www.veid.de, www.ateg-bw.de