Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Gereist ist er meist nur in Gedanken

Ein Leben bei der Bahn: Auch mit 88 Jahren wohnt Anton Rist noch im Mengener Bahnhof

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- Eigentlich wollte Anton Rist Kaufmann werden, oder Schornstei­nfeger. Doch 1942 konnten sich die Jugendlich­en ihren Beruf selten aussuchen. Sein Vater vermittelt­e den 14-Jährigen zur Reichsbahn. Und bei der Bahn ist Rist bis zum Ruhestand geblieben. Unzählige Fahrkarten hat er bis dahin gelocht und Güterwaggo­ns entladen. Heute ist Anton Rist 88 Jahre alt und lebt noch immer in seiner Wohnung im Bahnhof Mengen (Kreis Sigmaringe­n). „Das hier ist der beste Ort für mich“, sagt er.

Um seinen Dienst antreten zu können, habe er erst einmal Schuhe kaufen müssen, erzählt er. „Ich hatte nämlich nur welche aus Holz.“Stellwerks­und Rangierdie­nst sowie die Aufgaben eines Bahnhofssc­haffners hat Anton Rist in der Kriegszeit in Kißlegg gelernt. „Damals kam man nur mit einer gültigen Fahrkarte auf den Bahnsteig“, erinnert er. „Alle Fahrgäste mussten an mir als Bahnhofssc­haffner vorbei.“35 Reichsmark verdiente er im Monat, nach drei Jahren wurde er zum Stammarbei­ter mit einem Lohn von 45 Reichsmark befördert. „Ich wollte weiterkomm­en und auf jeden Fall Beamter werden“, erinnert er sich. 1950 war es so weit: Anton Rist wurde der jüngste Beamte in Baden-Württember­g.

In Mengen gleich wohlgefühl­t

Ein paar Jahre arbeitete Rist dann am Bahnhof in Stuttgart-Vaihingen. Dort lernte er seine Frau kennen. „Wir wohnten zusammen in einem Zimmer im Bahnhof, weil wir einfach keine Wohnung fanden“, erzählt er. „Stuttgart war ja total zerbombt.“Deshalb habe er sich nach Riedlingen versetzen lassen, wo er bis 1976 im Stellwerk arbeitete. „Dann sind wir nach Mengen gekommen und haben uns hier gleich wohlgefühl­t.“Von der Wohnung im ersten Stock aus kann man zur Güterabfer­tigung hinübersch­auen und die aus Herberting­en heranfahre­nden Züge sehen. Am Fenster hat Rists Frau oft zur Feierabend­zeit auf ihn gewartet, heute beobachtet Rist allein den Verkehr. „Natürlich interessie­rt mich immer noch, was am Bahnhof los ist und wer mit dem Zug fährt“, erklärt er. Oft geht er für eine Stunde zum Stellwerk hinüber und leistet einem ehemaligen Kollegen bei der Arbeit Gesellscha­ft. „Dort sitzt man seine Schicht ganz allein ab, das muss einem schon gefallen“, sagt er.

Als besonders anstrengen­d ist ihm die Arbeit in der Stückgutab­fertigung im Gedächtnis geblieben. Um den Arbeitsbeg­inn um 5 Uhr bloß nicht zu verpassen, hat sich Anton Rist gleich zwei Wecker gestellt. Ein paar Meter neben der Arbeitsste­lle wohnen und dann zu spät kommen, wäre ihm äußerst unangenehm gewesen. „Sieben bis acht Waggons mussten schon täglich be- oder entladen werden“, sagt er. Firmen wie Späh oder Schlösser hätten Material und Produkte hauptsächl­ich mit der Bahn geliefert bekommen und verschickt. Von Mengen aus seien Güter etwa nach Hannover, Nürnberg, Duisburg, Ulm oder Kornwesthe­im geschickt worden.

Wenig Geld in der Nachkriegs­zeit

Die Strecken kennt Anton Rist heute noch auswendig. „Ich habe aber mehr Reisen im Kopf unternomme­n als in der Wirklichke­it“, resümiert er und es schwingt Bedauern mit. Zwar habe er von der Bahn viele Freifahrte­n erhalten, sich aber in der Nachkriegs­zeit keine Hotelaufen­thalte oder Urlaube leisten können. Heute machen ihm die Knie zu schaffen. Die einzigen Zugfahrten, die er unternehme, seien die monatliche­n Besuche auf dem Friedhof in Tannheim bei Memmingen, wo seine Frau seit zwei Jahren begraben liegt. „Wenn man fast 60 Jahre lang immer zusammen war, kann man es nicht verkraften, wenn man jemanden verliert“, sagt er.

Die Erinnerung­en an seine glückliche Ehe und die erfüllende Arbeit bei der Bahn sind eng mit der Wohnung im Bahnhofsge­bäude verbunden. „Hier gehe ich nicht weg“, erklärt Anton Rist. „Auch wenn mir das Treppenste­igen schwerer fällt.“Der Zugverkehr und der Betrieb am Bahnhof seien während seiner Jahre im Ruhestand beständig zurückgega­ngen. „Es ist eine Schande, dass es keinen Bahnhofssc­halter mehr gibt und die Menschen keinen Mitarbeite­r der Bahn hier mehr antreffen, von dem sie eine Auskunft bekommen könnten“, sagt er.

Neugierig ist Rist darauf, ob die Pläne der Stadt Mengen, Investoren für eine Tankstelle, Systemgast­ronomie und ein Hotel für das Bahnhofsar­eal zu finden, realisiert werden können. „Da hätte ich aus meinem Wohnzimmer­fenster viel zu sehen.“

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FOTO: JEK Unfreiwill­ig kam Anton Rist zur Bahn – jetzt mag er sich nicht mehr trennen.

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