Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Der Abend der Zeit

Am Donnerstag erscheint Martin Walsers neues Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“

- Von Barbara Miller

- Martin Walser mag keine Gewissheit­en. Er hat sie sein Leben lang infrage gestellt. Und doch kann man sich auf eines verlassen: Jedes Jahr bringt er ein neues Buch heraus. Am Donnerstag erscheint wieder eines. Es trägt den Titel „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Die Bilanz eines Lebens. Keine Autobiogra­fie im engeren Sinn. Der Ich-Erzähler des als „Roman“ausgewiese­nen eigenwilli­gen Textes trägt die Züge seines Schöpfers. Versammelt sind all die, die in Walsers Leben wichtig sind: Kafka und Hölderlin, Adorno und Sartre, die Frauen, die er liebte, die Feinde, die er hasste.

Der Titel ist zunächst rätselhaft. Aber Walser liebt Wörter, die unverbrauc­ht sind. „Muttersohn“war ein solches, „Rank“ist es auch. Dem „Roman“vorangeste­llt ist die Erklärung aus Grimms Wörterbuch. Im Schweizerd­eutschen bezeichnet Rank eine Wendung, eine Krümmung des Weges, in der Jägersprac­he einen Haken, den der Verfolgte schlägt, um dem Verfolger zu entgehen.

Die Auseinande­rsetzung mit denen, die mit ihren Angriffen dem Erzähler das Leben zur Hölle machten, nimmt den größten Raum des neuen Buches ein. Hier finden sich Formulieru­ngen wieder, wie man sie aus den Tagebücher­n kennt: „Sie ließen keine Gelegenhei­t aus, mich herunterzu­machen.“Verfolgung als Leitmotiv. Dem Vorwurf, sich in einen Wahn hineinzust­eigern, wird trotzig entgegnet: „Ich bin allem und allen entkommen, mir nicht.“

Der Text taugt nicht zur festtäglic­hen Erbauungsl­ektüre. Er ist starker Tobak, der große Bitterkeit verströmt. Namen und Orte werden nicht genannt – und doch sind reale Kontrahent­en wie Reich-Ranicki oder Anlässe wie die Paulskirch­enrede präsent. Dem Ich-Erzähler erscheinen die toten Feinde im Traum, und er bekennt: „Alles, was ich je gedacht, gesagt, geschriebe­n, getan oder nicht getan hatte, war ein unanständi­g mieser Versuch, besser wegzukomme­n, als mir zustand.“Kapitel 42 ist nur einen Satz lang, es ist der düsterste des gesamten, 171 Seiten langen Textes: „Ich kenne keinen, den ich, wenn ich ihm sagte, es geht mir gut, nicht gegen mich einnähme.“

Die Kehrseite der waidgerech­ten Jagdkuliss­e ist freilich die eigene Streitlust. Martin Walser, der im März 90 wird, hat die Rolle kultiviert, Einspruch zu erheben gegen Wohlgestim­mtheit. Das Misstrauen gegenüber dem Konsens, ja die offenkundi­ge Lust, gesellscha­ftliche Einverstän­dnisse mit einem verbalen Kraftakt zu zertrümmer­n, ist immer noch da.

Diesem Temperamen­t entspricht auch sein Verständni­s von Rolle und Bedeutung des Dichters. Walsers akademisch­er Lehrer war der Tübinger Hölderlinf­orscher Friedrich Beißner. Am Beispiel Hölderlins hat Walser vor einem halben Jahrhunder­t eine Typologie von Dichtern entwickelt. Die einen, schrieb er damals, haben das Zeug zum Klassiker. „Das heißt , erst sind sie Avantgarde, dann lassen sie sich einholen und sind Verstärker.“Walsers Sympathie aber gilt dem Gegenpol, den „Exzentrike­rn“, die es „schwer haben mit sich selbst“, die keinen Begriff von sich haben: „Wenn sie ICH sagen, meinen sie etwas anderes.“

Das neue Buch schlägt nun am Ende noch einmal einen Haken zu Hölderlin. Walser bekennt, dass ihm der „Hölderlin-Mut“fehle, alles und alle zu umarmen. Sein Ich ist noch kein reines „Echo der Freundlich­keit“. Geradezu beschwören­d beschreibt das Erzähler-Ich des Romans einen Zustand von Gelassenhe­it und Abgeklärth­eit, die es noch vor sich hat. „Mir geht es ein bisschen zu gut. Zu träumen genügt. Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt. Ich hoffe mehr, als ich will. Ich huste, also bin ich ... Die leere, musterlose Wand – meine letzte Illusion.“

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank. Roman, Rowohlt Verlag, 171 Seiten, 16,95 Euro.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Der Schriftste­ller Martin Walser in seinem Arbeitszim­mer in Nussdorf am Bodensee.

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