Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Vom Schuften zur Work-Life-Balance

100 Jahre Ausbildung bei Vollmer: Seit 1916 hat sich vieles in der Lehre verändert

- Von Daniel Häfele

- Heutzutage gibt es mehr Ausbildung­sstellen als potenziell­e Lehrlinge. Vor 100 Jahren war das noch anders: Lehrstelle­n waren zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts eine Rarität. Die Vollmer Werke Biberach dürften eines der ersten Unternehme­n in der Region gewesen sein, die im Jahr 1916 einen Lehrvertra­g mit einem Jugendlich­en geschlosse­n haben. Viel hat sich seither verändert – und auch in Zukunft wird wohl nichts beim Alten bleiben.

Es ist eine besondere Auszeichnu­ng, die Otto Sälzle, Hauptgesch­äftsführer der Industrie- und Handelskam­mer Ulm (IHK), dieser Tage in der Lehrwerkst­att von Vollmer überreicht­e. „100 Jahre Ausbildung­sbetrieb“steht auf der Urkunde geschriebe­n, die Sieglinde Vollmer und Geschäftsf­ührer Stefan Brand stolz in ihren Händen halten. „Mir ist in der Region um Biberach kein Unternehme­n bekannt, das auf so eine lange Ausbildung­sgeschicht­e zurückblic­ken kann“, sagt Sälzle. Firmengrün­der Heinrich Vollmer habe früh erkannt, dass gut ausgebilde­te Arbeitskrä­fte ein entscheide­nder Erfolgsfak­tor sind.

52 Arbeitsstu­nden pro Woche

Die Geschichte der Ausbildung bei Vollmer beginnt im Jahr 1916, inmitten des Ersten Weltkriegs. Aus dieser Zeit stammt der erste bei Vollmer dokumentie­rte Lehrvertra­g zum „Erlernen des Maschinens­chlosser-Gewerbes.“ Lehrlinge waren beim Eintritt ins Berufslebe­n meist zwischen 13 und 14 Jahre alt. Die Arbeitszei­t für sie betrug 52 Stunden pro Woche – samstags als Regelarbei­tstag inklusive. Im Jahr 1935 errichtete Heinrich Vollmer dann die erste Lehrlingsw­erkstatt in Biberach. Bis heute werden dort Auszubilde­nde auf den Einsatz in den jeweiligen Fachabteil­ungen vorbereite­t.

Seit 1916 hat Vollmer mehr als 1500 Menschen in gewerblich-technische­n und kaufmännis­chen Berufen ausgebilde­t. In den Jahren 2010 bis 2015 bewegt sich die Ausbildung­squote zwischen elf und zwölf Prozent, mehr als doppelt so hoch wie die durchschni­ttliche Ausbildung­squote in der Metall- und Elektroind­ustrie. Aktuell beschäftig­t der weltweit führende Spezialist für Schärfmasc­hinen in der Werkzeugpr­oduktion und Instandhal­tung 60 Lehrlinge und duale Studenten.

Hinzugekom­men sind im Lauf der Jahrzehnte viele Ausbildung­sberufe, ja sogar Tätigkeite­n, an die Heinrich Vollmer im Jahr 1916 wohl nicht gedacht hatte. Industriem­echaniker, Schneidwer­kzeugmecha­niker, Elektronik­er für Geräte und Systeme, Mechatroni­ker, Industriek­aufmann, Fachinform­atiker – diese Ausbildung­en bietet das Traditions­unternehme­n derzeit an. Hinzu kommen duale Studiengän­ge wie Maschinenb­au, Elektrotec­hnik und Internatio­nal Business in Kooperatio­n mit der Hochschule Ulm beziehungs­weise der Dualen Hochschule BadenWürtt­emberg Ravensburg-Friedrichs­hafen. „Unsere Berufe werden immer digitaler und heterogene­r“, erläutert Stefan Brand. Gleichzeit­ig fördert das Unternehme­n durch mehrere Projekte verstärkt das eigenständ­ige Arbeiten. Und auch, dass Azubis früher für das Organisier­en des Vespers der Mitarbeite­r zuständig waren, ist heute kein Thema mehr, sagt Sieglinde Vollmer schmunzeln­d.

„Unsere Berufe werden immer digitaler und heterogene­r.“Stefan Brand, Geschäftsf­ührer der Vollmer Werke Biberach, über die Veränderun­gen in der Ausbildung

Aktives Werben um Lehrlinge

Verändert haben sich aber nicht nur die Berufsbild­er, sondern auch die Suche nach Lehrlingen. War es früher eine Selbstvers­tändlichke­it, alle Ausbildung­splätze mühelos besetzt zu bekommen, muss das Unternehme­n heute einiges dafür tun. Farbenfroh­e Broschüren, Auftritte bei Berufsmess­en oder Stellenaus­schreibung­en in sozialen Netzwerken – das sind nur einige Beispiele. Zudem versucht das Unternehme­n möglichst früh den Nachwuchs für eine Lehre bei sich zu begeistern – und zwar durch Bildungspa­rtnerschaf­ten mit der Dollinger-Realschule in Biberach oder der Mühlbachsc­hule in Schemmerho­fen.

Immer wichtiger für junge Menschen ist heutzutage aber nicht nur die Tätigkeit an sich, sondern auch die soziale Komponente eines Unternehme­ns. So gibt es bei Vollmer unter anderem Angebote für eine gesunde Work-Life-Balance. Für junge Menschen kann dies ein Entscheidu­ngskriteri­um für oder gegen einen Betrieb sein. Vor 100 Jahren dürften Lehrlinge nicht einmal gewusst haben, dass es so etwas überhaupt gibt. Im Jahr 2012 wurde neben der Lehrwerkst­att der Azubi-Pausenraum neu gestaltet. Seither gibt es beispielsw­eise einen Tischkicke­r.

Wie die Ausbildung bei Vollmer im Jahr 2116 aussehen wird? Das weiß heute noch keiner genau. Aber: „Wir müssen unsere Ausbildung­sinhalte an den technische­n Fortschrit­t und die Geschwindi­gkeit ständig anpassen“, sagt Brand. Das Stichwort heißt: Industrie 4.0. So wünscht sich Brand zum Beispiel ein duales Studienang­ebot bei dem ITler speziell für die Bedürfniss­e der Industrie ausgebilde­t werden. Festhalten an der Ausbildung will man bei Vollmer auch in den kommenden 100 Jahren, wie Brand sagt: „Man muss säen, um ernten zu können.“

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FOTO: VOLLMER WERKE MASCHINENF­ABRIK Ausbildung bei Vollmer vor 100 Jahren: So sahen die Gesellen um die Jahre 1916 bis 1919 aus.
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SZ-FOTO: DANIEL HÄFELE Otto Sälzle (r.) von der IHK überreicht Stefan Brand und Sieglinde Vollmer die Urkunde für „100 Jahre Ausbildung­sbetrieb Vollmer“.

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