Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Vom Schuften zur Work-Life-Balance
100 Jahre Ausbildung bei Vollmer: Seit 1916 hat sich vieles in der Lehre verändert
- Heutzutage gibt es mehr Ausbildungsstellen als potenzielle Lehrlinge. Vor 100 Jahren war das noch anders: Lehrstellen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rarität. Die Vollmer Werke Biberach dürften eines der ersten Unternehmen in der Region gewesen sein, die im Jahr 1916 einen Lehrvertrag mit einem Jugendlichen geschlossen haben. Viel hat sich seither verändert – und auch in Zukunft wird wohl nichts beim Alten bleiben.
Es ist eine besondere Auszeichnung, die Otto Sälzle, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Ulm (IHK), dieser Tage in der Lehrwerkstatt von Vollmer überreichte. „100 Jahre Ausbildungsbetrieb“steht auf der Urkunde geschrieben, die Sieglinde Vollmer und Geschäftsführer Stefan Brand stolz in ihren Händen halten. „Mir ist in der Region um Biberach kein Unternehmen bekannt, das auf so eine lange Ausbildungsgeschichte zurückblicken kann“, sagt Sälzle. Firmengründer Heinrich Vollmer habe früh erkannt, dass gut ausgebildete Arbeitskräfte ein entscheidender Erfolgsfaktor sind.
52 Arbeitsstunden pro Woche
Die Geschichte der Ausbildung bei Vollmer beginnt im Jahr 1916, inmitten des Ersten Weltkriegs. Aus dieser Zeit stammt der erste bei Vollmer dokumentierte Lehrvertrag zum „Erlernen des Maschinenschlosser-Gewerbes.“ Lehrlinge waren beim Eintritt ins Berufsleben meist zwischen 13 und 14 Jahre alt. Die Arbeitszeit für sie betrug 52 Stunden pro Woche – samstags als Regelarbeitstag inklusive. Im Jahr 1935 errichtete Heinrich Vollmer dann die erste Lehrlingswerkstatt in Biberach. Bis heute werden dort Auszubildende auf den Einsatz in den jeweiligen Fachabteilungen vorbereitet.
Seit 1916 hat Vollmer mehr als 1500 Menschen in gewerblich-technischen und kaufmännischen Berufen ausgebildet. In den Jahren 2010 bis 2015 bewegt sich die Ausbildungsquote zwischen elf und zwölf Prozent, mehr als doppelt so hoch wie die durchschnittliche Ausbildungsquote in der Metall- und Elektroindustrie. Aktuell beschäftigt der weltweit führende Spezialist für Schärfmaschinen in der Werkzeugproduktion und Instandhaltung 60 Lehrlinge und duale Studenten.
Hinzugekommen sind im Lauf der Jahrzehnte viele Ausbildungsberufe, ja sogar Tätigkeiten, an die Heinrich Vollmer im Jahr 1916 wohl nicht gedacht hatte. Industriemechaniker, Schneidwerkzeugmechaniker, Elektroniker für Geräte und Systeme, Mechatroniker, Industriekaufmann, Fachinformatiker – diese Ausbildungen bietet das Traditionsunternehmen derzeit an. Hinzu kommen duale Studiengänge wie Maschinenbau, Elektrotechnik und International Business in Kooperation mit der Hochschule Ulm beziehungsweise der Dualen Hochschule BadenWürttemberg Ravensburg-Friedrichshafen. „Unsere Berufe werden immer digitaler und heterogener“, erläutert Stefan Brand. Gleichzeitig fördert das Unternehmen durch mehrere Projekte verstärkt das eigenständige Arbeiten. Und auch, dass Azubis früher für das Organisieren des Vespers der Mitarbeiter zuständig waren, ist heute kein Thema mehr, sagt Sieglinde Vollmer schmunzelnd.
„Unsere Berufe werden immer digitaler und heterogener.“Stefan Brand, Geschäftsführer der Vollmer Werke Biberach, über die Veränderungen in der Ausbildung
Aktives Werben um Lehrlinge
Verändert haben sich aber nicht nur die Berufsbilder, sondern auch die Suche nach Lehrlingen. War es früher eine Selbstverständlichkeit, alle Ausbildungsplätze mühelos besetzt zu bekommen, muss das Unternehmen heute einiges dafür tun. Farbenfrohe Broschüren, Auftritte bei Berufsmessen oder Stellenausschreibungen in sozialen Netzwerken – das sind nur einige Beispiele. Zudem versucht das Unternehmen möglichst früh den Nachwuchs für eine Lehre bei sich zu begeistern – und zwar durch Bildungspartnerschaften mit der Dollinger-Realschule in Biberach oder der Mühlbachschule in Schemmerhofen.
Immer wichtiger für junge Menschen ist heutzutage aber nicht nur die Tätigkeit an sich, sondern auch die soziale Komponente eines Unternehmens. So gibt es bei Vollmer unter anderem Angebote für eine gesunde Work-Life-Balance. Für junge Menschen kann dies ein Entscheidungskriterium für oder gegen einen Betrieb sein. Vor 100 Jahren dürften Lehrlinge nicht einmal gewusst haben, dass es so etwas überhaupt gibt. Im Jahr 2012 wurde neben der Lehrwerkstatt der Azubi-Pausenraum neu gestaltet. Seither gibt es beispielsweise einen Tischkicker.
Wie die Ausbildung bei Vollmer im Jahr 2116 aussehen wird? Das weiß heute noch keiner genau. Aber: „Wir müssen unsere Ausbildungsinhalte an den technischen Fortschritt und die Geschwindigkeit ständig anpassen“, sagt Brand. Das Stichwort heißt: Industrie 4.0. So wünscht sich Brand zum Beispiel ein duales Studienangebot bei dem ITler speziell für die Bedürfnisse der Industrie ausgebildet werden. Festhalten an der Ausbildung will man bei Vollmer auch in den kommenden 100 Jahren, wie Brand sagt: „Man muss säen, um ernten zu können.“