Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Spannende Schatzsuche im Land der Skipetaren
Noch gilt Albanien als touristischer Geheimtipp – Auf der CMT stellt sich der südosteuropäische Staat vor
Und es gibt sie doch – noch: die unbekannten Regionen Europas. Sie liegen im Südosten, bei den Skipetaren, in Albanien. Das Land, das 50 Jahre lang durch den Steinzeitkommunismus unter Diktator Enver Hoxha in die totale Isolation und den wirtschaftlichen Ruin getrieben worden ist, versucht seit einem Vierteljahrhundert, den Anschluss an Europa zu schaffen. Ein schwieriges Unterfangen, das nach Chaoszeiten und Willkürherrschaft in den 1990er-Jahren nun doch von Erfolg gekrönt zu sein scheint. Viel dazu bei trägt eine einigermaßen stabile, demokratische Regierung, das überall sichtbare Engagement ausländischer Investoren sowie der aufstrebende Tourismus. „Lonely Planet“, die Bibel für Individualreisende, rief seiner Gemeinde bereits vor einigen Jahren zu „Ab nach Albanien!“und bezeichnete das Land als das derzeit spannendste in Europa. Die Stuttgarter Tourismusmesse CMT hat diesen Ruf gehört und Albanien zum Partnerland 2017 gekürt.
Pulsierende Hauptstadt
Spannend ist Albanien allemal und sein Potenzial riesengroß: Die Berge, die zwei Drittel des Landes bedecken, geben ein Wanderparadies erster Güte ab; die 450 Kilometer lange Küste am adriatischen und ionischen Meer besteht überwiegend aus breiten Sandstränden; uralte Städte wie Berat und Gjirokastra sowie Ausgrabungsstätten zählen zum UnescoWeltkulturerbe. Und mittendrin liegt die pulsierende Hauptstadt Tirana, in der fast jeder Dritte der rund drei Millionen Albaner wohnt.
Auch Armela Memaj, in einer Wohnung ohne Heizung, in einem Plattenbau aus den 1950er-Jahren. Die 33-Jährige studierte Politikwissenschaften in Berlin und führt heute vor allem deutsche Touristen durch ihre Heimat. Wer mit ihr über den Boulevard der Helden zum Skanderbeg-Platz im Zentrum Tiranas flaniert, erlebt eine moderne europäische Großstadt in vollem Wachstum. Allerorten ragen halbfertige Hochhaus-Skelette aus dem Boden, die sich in den glänzenden Fassaden neuer Shopping-Malls, Verwaltungsund Hotelkomplexe spiegeln. Dazwischen stehen mächtige ehemalige Regierungsgebäude, angelegt in den 1930er-Jahren von den Stadtplanern der italienischen Faschisten, genauso wie uniforme Wohnblocks. Moscheen, Kirchen und Jugendstilfassaden komplettieren diese einzigartige Architektur-Mischung.
Land der Widersprüche
Armela erzählt ohne Unterlass. Hauptsächlich von der bewegten Geschichte Albaniens, vom Nationalhelden Skanderbeg, der das Land einst von den Osmanen befreite, von Ali Pascha, dem geliebten, aber auch umstrittenen Herrscher im 18. Jahrhundert, von den Hunderttausenden Bunkern, die Hoxha im ganzen Land bauen ließ. Armela führt durch das neue, schicke Ausgehquartier im ehemaligen Blockviertel, in dem einst Hoxha und seine Minister Villen mit Pool bewohnten – streng bewacht und von der Außenwelt abgeblockt. Jede Menge angesagter Restaurants, trendiger Bars, Clubs und Diskotheken sorgen hier jetzt für Unterhaltung bis spät in die Nacht zu unschlagbar günstigen Preisen.
Die Fremdenführerin erklärt stolz, dass es in Albanien mittlerweile alles zu kaufen gebe, und schwärmt vom ehemaligen Bürgermeister Tiranas, der eigentlich Künstler ist und die grauen Fassaden rot, gelb, grün und blau anmalen ließ. „Deshalb wird Tirana auch die bunte Stadt genannt“, erzählt Armela fröhlich.
Stopp! Da war doch noch was: Albanien gilt als ärmstes Land Europas mit einem Durchschnittseinkommen von knapp 400 Euro (2014) und einer überwiegend muslimischen Bevölkerung! Wie passt das zusammen mit der hippen Partymeile, den jungen Mädchen in Miniröcken und Tank-Tops, den modischen Damen, die wohl niemals ein Kopftuch tragen würden? Was sagt der Imam zu unserem Besuch in der alt-ehrwürdigen und sehenswerten Ethem-BeyMoschee zur Gebetsstunde und ohne Kopfbedeckung? Woher kommen all die dicken Mercedes-Limousinen, die die Straßen Tiranas verstopfen? Armela zuckt nur die Schultern, sie kann sich die offensichtliche Vorliebe der Albaner für das deutsche Auto mit dem Stern auch nicht erklären. Und uns nicht deren Finanzierung. Die Worte Korruption, Vetternwirtschaft und Überschuldung gehören wohl nicht zu ihrem Wortschatz. Sie spricht auch nicht gerne über fehlende Sozialleistungen und den riesigen Unterschied zwischen Arm und Reich in ihrem Land. Lieber weist sie auf die Toleranz ihrer Landsleute in Sachen Religion hin, denen ein halbes Jahrhundert lang nur der Glaube an den Kommunismus gestattet war. Sagt’s und führt ihre Gruppe ins Restaurant, wo albanische Köstlichkeiten wie Spinattorte, gefüllte Auberginen, herzhaftes Blätterteiggebäck, Reisbällchen, Fleischspieße, süße Wassermelonen und jede Menge Raki die drängenden Fragen und Widersprüche vergessen lassen.
Doch irgendwann im Laufe dieser Reise wird auch Armela nachdenklich. Ihr Redefluss gerät ins Stocken auf dem langen, beschwerlichen Weg über die Berge im Mercedes(!)-Bus von der Küstenstadt Durres zu den Ruinen des antiken Butrint ganz im Süden des Landes. Die Sprache kommt auf das schlechte Image der Albaner in Europa. Ihr Gesicht hört auf zu leuchten, als statt von Designerboutiquen die Rede ist vom Verkauf von T-Shirts aus Altkleidersammlungen, von hoher Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung in andere europäische Länder. Und als das Interesse der Reisenden der in manchen Regionen noch immer ausgeübten Blutrache gilt, stehen Armela die Tränen in den Augen.
Potenzial als Urlaubsland
Sie weiß nämlich ganz genau: In einem Land, das EU-Beitrittskandidat ist, haben solche Geschichten eigentlich keinen Platz. Genauso wenig wie die von Muhedin Makri, dem 78-jährigen Steinmetz aus der Weltkulturerbestadt Gjirokastra, der während der Diktatur 35 Jahre lang Reißverschlüsse und Sardinendosen herstellen musste, heute ohne nennenswerte Rente dasteht und mit seinen kunstvollen Arbeiten kaum sein Brot, geschweige denn die Butter darauf verdienen kann. Zu einem modernen, europäischen Land passen auch nicht die ärmlichen Sinti- und Romabehausungen am Straßenrand und der viele Müll, der auf Parkplätzen, entlang der Wanderwege und am Strand herumliegt.
Es muss also noch jede Menge passieren, bevor Albanien tatsächlich EU-reif ist und eine Top-Destination für Bade- und Wanderurlauber, Partygänger sowie Kulturinteressierte werden kann. Die Grundlagen sind da. Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Albaner gehören dazu. Ebenso die günstigen Preise: Ein einfaches, sauberes Doppelzimmer mit Bad und sagenhaftem Meerblick gibt es in der Nebensaison, in der die Temperaturen erst erträglich werden, ab 25 Euro.
Die wahren Schätze des Landes muss der Urlauber aber noch suchen. Seien es die wunderschönen, einsamen Badebuchten neben all den Hotel- und Appartementklötzen der großen Küstenorte; die in Wohnburgen versteckt liegenden Kirchen mit prächtigen Ikonen; die spärlich ausgeschilderten Wanderwege, die durch kleine Paradiese führen. Spannend ist diese Suche allemal.