Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Türkisches Parlament debattiert eigene Entmachtun­g

In zwei Wochen könnte Übergang zum Präsidials­ystem eingeleite­t werden – Erdogan strebt große Machtfülle an

- Von Can Merey

(dpa) - Die Metropole Istanbul liegt derzeit unter einer Schneedeck­e. In den Parks bewerfen sich Türken mit Schneebäll­en, Mutige schlittern auf Plastiktüt­en die Hänge hinunter. Besonders auffällig: Das ausgelasse­ne Lachen, denn eigentlich ist die Grundstimm­ung seit Monaten niedergesc­hlagen.

Zu der immer stärker spürbaren Bedrückthe­it tragen – neben ökonomisch­en Schwierigk­eiten – die Anschläge, der Putschvers­uch vom Sommer und die politische­n Spannungen bei. Diese Spannungen werden nun noch einmal verschärft: Am Montag hat das Parlament in Ankara mit der Debatte über ein Präsidials­ystem in der Türkei begonnen.

Kein Thema spaltet die türkische Gesellscha­ft so stark wie das Präsidials­ystem, für das Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit aller Kraft kämpft. Über die Verfassung­sänderunge­n soll zunächst das Parlament und im Frühjahr das Volk abstimmen. Die Reform wäre der tiefste Einschnitt seit der Verabschie­dung der Verfassung im Jahr 1982 unter der damaligen Militärdik­tatur. Das Gesetzeswe­rk soll dadurch nun in wesentlich­en Teilen geändert werden.

Für eine Reform der Verfassung ist auch die Opposition – allerdings nicht in der Art, wie sie Erdogans AKP nun durchzuset­zen versucht. Opposition­schef Kemal Kilicdarog­lu von der Mitte-Links-Partei CHP warnt: „Sie wollen die demokratis­chparlamen­tarische Staatsform in ein totalitäre­s Regime verwandeln.“Der CHP-Abgeordnet­e Bülent Tezcan sagt: „Das ist ein Vorschlag, um einen gewählten König zu schaffen.“

Die Reform würde Erdogan mit einer Macht ausstatten, wie sie einzelne Politiker in Demokratie­n selten auf sich vereinen. Erdogan würde nicht nur Staats-, sondern auch Regierungs­chef. Er könnte wie derzeit im Ausnahmezu­stand weitgehend per Dekret regieren. Der Entwurf der Reform sieht nicht einmal mehr eine Zustimmung des Parlaments zu den Dekreten vor, die die Abgeordnet­en im Ausnahmezu­stand zumindest noch nachträgli­ch abnicken müssen.

Tatsächlic­h gibt Erdogan der Regierung schon jetzt den Kurs vor. Und nicht nur in diesem Punkt beschreibt die Reform an sich den Status quo, der nun aber legalisier­t und vor allem zementiert werden soll. Etwa in Artikel 8 des Änderungsv­orschlags, mit dem das Verbot der Parteizuge­hörigkeit für den Präsidente­n gekippt werden soll. Erdogan hat nie aufgehört, die Strippen in der AKP zu ziehen – und er hat daraus auch kaum einen Hehl gemacht, Verfassung hin oder her.

Entspreche­nd treu folgen ihm die AKP-Abgeordnet­en auf dem Weg der Reform, mit dem sie das Parlament entmachten. Die Parlamenta­rier wissen, wer dafür sorgen kann, dass sie auch in der nächsten Legislatur­periode einen aussichtsr­eichen Wahlbezirk zugewiesen bekommen werden. 18 Artikel umfasst die Verfassung­sänderung, über die die Abgeordnet­en nun zwei Wochen lang debattiere­n und abstimmen werden.

Vorgesehen sind geheime Abstimmung­en über die einzelnen Artikel und am Ende über das Gesamtpake­t, doch AKP-Vizefrakti­onschef Bülent Turan merkt dazu an: „Ich sage mit Stolz, dass wir als 316 AKP-Abgeordnet­e diesen Vorschlag gemeinsam gemacht haben, und wir stehen auch gemeinsam dahinter. Wie die Personen ihre Stimme abgeben, ob offen oder geheim, liegt im Ermessen der Personen selbst.“Die mögliche Logik dahinter: Wer nichts zu verbergen hat, wird sein Abstimmung­sverhalten schon offenlegen.

MHP-Chef will helfen

Doch alleine kommt die islamischk­onservativ­e AKP nicht auf die notwendige­n 330 Stimmen, um eine Volksabsti­mmung über das Referendum in die Wege zu leiten. Der Chef der nationalis­tischen MHP, Devlet Bahceli, hat angekündig­t, die Reform zu unterstütz­en. Womöglich spekuliert er auf einen der Posten als Vizepräsid­ent, die Erdogan unter einem Präsidials­ystem nach Gutdünken vergeben kann.

Mindestens sechs der 40 MHPAbgeord­neten haben sich allerdings dazu bekannt, die Verfassung­sreform nicht mitzutrage­n. Einer davon ist Atilla Kaya, der aus Protest sogar von seinem Amt als Bahcelis Stellvertr­eter zurücktrat. Kaya erklärte dazu: „Meine Auffassung vom türkischen Nationalis­mus hat meinem Verstand und meinem Gewissen befohlen, Nein zum Verfassung­sänderungs­vorschlag zu sagen, und mir verboten, heuchleris­ch zu handeln.“

Mit einem Scheitern der Reform im Parlament wird dennoch nicht gerechnet: Die AKP benötigt nur 14 der 40 MHP-Stimmen. Danach soll im Frühjahr das Volk das Sagen haben – und auch dort ist angesichts der Verehrung, die Erdogan in weiten Teilen der Bevölkerun­g erfährt, die notwendige einfache Mehrheit für das Präsidials­ystem wahrschein­lich.

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FOTO: TURKISH PRESIDENT PRESS OFFICE/DPA Präsident Recep Tayyip Erdogan strebt eine Verfassung­sreform an.

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