Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Die Rente muss zum Leben reichen“
SPD-Bundestagsabgeordnete Mattheis fordert ein Rentenniveau nicht unter 50 Prozent
- Die Ulmer Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Südwest-SPD, Hilde Mattheis, gehört zum harten linken Kern – und vertritt damit nicht immer die eher konservativen Positionen ihrer Landespartei. Im Gespräch mit Hendrik Groth, Claudia Kling, Ulrich Mendelin, Katja Korf und Kara Ballarin geht die Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21 beim Thema Rente auf Konfrontationskurs zu ihrer Parteigenossin, der Bundessozialministerin Andrea Nahles. Zudem erklärt die 62-Jährige, die wieder für die SPD zur Bundestagswahl antritt, warum die Nähe zur Linkspartei größer ist als zur Union.
Mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und Gesundheitsexperten haben Sie einen Fahrplan zur schrittweisen Einführung einer Bürgerversicherung entwickelt. Ihr Konzept klingt nach „Bürgerversicherung light“.
Wir fordern die Bürgerversicherung seit 2005 gebetsmühlenartig. Zu meinen, sie auf einen Schlag einführen zu können, ist ein Denkfehler. Sie ist kein Lichtschalter, den man einfach anknipsen kann, sondern eher wie eine Bergbesteigung. Wir haben fünf Punkte erarbeitet, die wesentlich sind und nach und nach eingeführt werden müssen – darunter die paritätische Finanzierung der Beiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber und die Angleichung der Gebührentabellen für gesetzlich und privat Versicherte. Zudem müssen wir die Beitragsbemessungsgrenze hochsetzen.
Halten Sie es für realistisch, bei einer Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl, egal in welcher Konstellation, die Bürgerversicherung einführen zu können?
Es wird kein Spaziergang werden. Bei der Bürgerversicherung leben wir und die CDU/CSU auf unterschiedlichen Sternen, und auch mit der FDP wird das nicht gehen.
Ein Grund für Sie, auf eine rot-rotgrüne Koalition, genannt R2G, zu setzen? Trotz erheblicher inhaltlicher Unterschiede mit der Linkspartei – etwa in der Nato-Frage?
Es gibt nicht nur mit der Linkspartei eine große Diskrepanz. Die ist noch größer mit Teilen der CSU. Und wenn ich anschaue, was in der aktuellen Regierung mit der CDU alles nicht umsetzbar war, muss man bei möglichen Koalitionen einen pragmatischen, keinen ideologischen Ansatz verfolgen. Dazu gehören auch öffentlichkeitswirksame R2G-Runden im Parlament.
Die SPD hat in der Großen Koalition Erfolge erzielt. Warum sinken die Zustimmungswerte so stark?
Wir suchen ernsthaft nach Erklärungen dafür. Es ist uns zum Teil nicht gelungen, Erfolge an die Wählerschaft zu vermitteln. Aber wir haben auch Dinge als Siege dargestellt – etwa beim Mindestlohn –, die nur halbe waren. Wir müssen weiterhin eine Schieflage bei den Vermögen konstatieren. Wir brauchen mehr Verteilungsgerechtigkeit.
Ist Sigmar Gabriel dafür der richtige Kanzlerkandidat?
Sigmar Gabriel ist ein starkes politisches Talent. Die SPD muss hinter ihrem Bundesvorsitzenden stehen. Er sieht, dass sich die soziale Frage weiter verschärft. Das sieht man auch an Baden-Württemberg. Unser Wohlstand verteilt sich nicht gerecht. Daher müssen die zentralen Fragen lauten: Kann ich von meiner Arbeit anständig leben, werde ich im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit gut versorgt und bekomme ich für mich und meine Familie eine ordentliche Wohnung zu einem vernünftigen Preis?
Kann man AfD-Wähler mit sozialen Themen wie der Bürgerversiche- rung zurückgewinnen? Es sind massiv Wähler bei der Landtagswahl von der SPD zur AfD gewandert.
Mit der Bürgerversicherung, mit Pflege und Rente kann man vielleicht keine Wahlen gewinnen, aber man kann sie verlieren. Wir als SPD brauchen eine klare Profilierung als linke Volkspartei. Unser Ziel muss es sein, die Menschen von unseren Antworten auf soziale Fragen zu überzeugen. Das müssen wir ihnen erklären. Etwa: Wenn wir die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen, heißt das, wir können wieder deine Brille zahlen. Oder wenn wir den Spitzensteuersatz erhöhen, können wir das Krankenhaus bei dir vor Ort erhalten.
Apropos Krankenhäuser: Der baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha von den Grünen hat jüngst gesagt, dass wohl in den nächsten 20 Jahren jedes fünfte Krankenhaus im Land schließen werde. Sind Sie seiner Meinung?
Ich habe mich dagegen ausgesprochen, ein Krankenhaussterben so vorauszusagen – zumal wir auf Bundesebene Förder- und Investitionsmöglichkeiten eröffnen. Es ist fahrlässig, im Gesundheitsbereich nur durch ein Krankenhaussterben Versorgungsplanung betreiben zu wollen.
Beim Landesparteitag im Oktober haben Sie die Wahl von Leni Breymaier als neue Parteichefin und die Ihrer ehemaligen Mitarbeiterin Luisa Boos als Generalsekretärin gefeiert. Ist das für Sie ein gewünschter Linksruck in der Landespartei?
Als Parteilinke in Baden-Württemberg habe ich einen Erneuerungsprozess massiv eingefordert. Dazu brauchen wir auch innerparteiliche Diskussionen – und die werden jetzt endlich möglich. Das war ein Stück weit ein inhaltlicher Befreiungsschlag. Linke Leute wie ich müssen sich dabei gar nicht durchsetzen, aber es muss eine Diskussion über Inhalte möglich sein. So organisiere ich gerade für Leni Breymaier eine Veranstaltung zum Thema Rente am 20. Januar. Darin wird es um die Frage gehen, wie hoch das Rentenniveau sein muss, damit die Rente nicht zur Armutsfalle wird.
Folgen Sie Ihrer Genossin, Bundessozialministerin Andrea Nahles, die eine Grenze bei 46 Prozent einzieht?
Darüber werden wir am 20. Januar reden. Ich selbst glaube, dass das Rentenniveau nicht unter 50 Prozent sinken darf, eher deutlich darüber sein muss. Die Rente muss wieder zum Leben reichen.