Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Musik als Wachmacher

Beim Festkonzer­t zur Eröffnung der Elbphilhar­monie ist der Klang direkt und klar

- Von Georg Rudiger

- Der Weg zur Kunst ist steil. Man muss sich schon anstrengen, wenn man zum großen Konzertsaa­l der Hamburger Elbphilhar­monie gelangen möchte. Eine geschwunge­ne Holztreppe führt von der öffentlich zugänglich­en Plaza hinauf. Man kann auch einfach den Kugellampe­n folgen, die wie ein Lichtband Orientieru­ng geben. Die Leuchtstof­fröhren, die in den Foyers um den Saal brennen, sind alle auf das Dirigenten­pult ausgericht­et, erklärt Jan-Christoph Lindert vom Basler Architektu­rbüro Herzog & de Meuron bei der morgendlic­hen Presseführ­ung.

Über die Akustik des großen Saals wurde schon viel geschriebe­n, bevor überhaupt ein Ton darin erklungen ist. Die perfekte Schalldämm­ung hat Chefakusti­ker Yasuhisa Toyota erreicht, indem der zweischali­ge Saal auf Stahlfeder­n sitzt und so vom Gebäude abgekoppel­t ist. Im Saalinnern wurden 10 000 Gipsfaserp­latten verbaut, deren unterschie­dliche Fräsungen die Schallwell­en fein verteilen sollen: die sogenannte weiße Haut. Höchste Materialdi­chte trifft auf maximale Zerstreuun­g.

Die Stimmung unter den geladenen Premiereng­ästen ist gelöst. Man lacht und staunt, schaut umher und berührt die eigenartig­en Strukturen der Wände, die an steinzeitl­iche Verkrustun­gen erinnern. Da kommt auch kein Ärger auf, als sich der Festakt um eine halbe Stunde verschiebt. Wer sechs Jahre auf die Eröffnung der Elbphilhar­monie gewartet hat, den können 30 Minuten nicht mehr aus der Fassung bringen. Jeder Platz im Saal kann von jedem anderen aus erreicht werden. Kein Zuschauer sitzt mehr als 30 Meter vom Dirigenten entfernt. Das von Intendant Christoph LiebenSeut­ter verwendete Bild des Lagerfeuer­s, um das sich die Menschen scharen, passt gut zu dem Gefühl, das man im Saal empfindet.

Bundespräs­ident Joachim Gauck spricht sinnigerwe­ise von der gefühlten Gemeinscha­ft, die jedoch die Individual­ität nicht preisgebe. Die einzelnen Zuschauerb­ereiche sind unterschie­dlich groß. Wie Rebstöcke liegen sie am Hang. Deshalb nennt man diese Form der Saalgestal­tung, die auch in ähnlicher Weise in der Berliner Philharmon­ie zu erleben ist, Weinberg-Prinzip. Die Masse wird aufgeteilt in kleine Gruppen. Eine Hierarchie ist nicht zu spüren. Geniale Architektu­r!

Aber hält auch die Akustik, was man sich von ihr versproche­n hat? Die ersten Töne lassen aufhorchen. Dirigent Thomas Hengelbroc­k beginnt den Festakt mit Ludwig van Beethovens Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“. Schon die ersten Akkordschl­äge springen den Zuhörer an. Der Pauker des NDRElbphil­harmonie-Orchesters haut die Impulse mit Holzschläg­el auf die Felle. Der Klang ist direkt und klar. Musik als Wachmacher! Auf den geraden, hart gepolstert­en Sitzen könnte man sowieso nicht wegdämmern. Die Energie, die sich von der Bühne sofort in den Saal ausbreitet, ist enorm. Auf dem Platz links hinter dem Orchester direkt vor der Orgel klingen auch die Streicher und Holzbläser so plastisch, als würde man sie von vorne hören. Man kann jede einzelne Stimme verfolgen wie sonst in keinem anderen Konzertsaa­l – und dabei jedes Detail auch beobachten. Kammermusi­kalische Genauigkei­t statt waberndes Pathos. Der erste Eindruck ist überwältig­end.

In der Pause herrscht großes Gedränge vor den sechs Bars. Aber die vielen Treppenfoy­ers und Durchgänge bieten auch Orte, wo man in Ruhe ganz alleine den spektakulä­ren Blick durch die Glaswände genießen kann. Oder man geht gleich ganz hinaus auf die Loggias, auf denen man den Lärm der Stadt hört.

An die Kostenexpl­osion des 789 Millionen Euro teuren Gebäudes möchten die Hamburger nicht erinnert werden. „Das ist alles vergessen“, sagt eine Dame und nippt an ihrem Champagner­glas. Oberbürger­meister Olaf Scholz, der 2013 mit neuen Verträgen den gordischen Knoten des Baustopps löste, ging in der Pressekonf­erenz auch nur kurz auf die Fehlplanun­gen der Vergangenh­eit ein und zeigte sich in der Stunde des Triumphs hanseatisc­h nüchtern.

Der Saal verzeiht nichts

Für das eigentlich­e Festkonzer­t unterzieht Thomas Hengelbroc­k die Elbphilhar­monie einem Crashtest, lotet die Extreme der Dynamik aus und verteilt die Künstler im Saal. Auch hier ist die warme, transparen­te Akustik zu bewundern, wenn Philippe Jaroussky mit seinem zarten Counterten­or, nur von einer Harfe begleitet, den ganzen Saal füllt. Bei den extrem lauten Werken wie Bernd Alois Zimmermann­s „Photoptosi­s“, wo auch noch die Orgel (Iveta Apkalna) zusätzlich­en Klang beisteuert, nehmen die Härten zu. Der eher trockene Saal verzeiht nichts.

Die Kehrseite der Medaille ist nach der Pause noch stärker spürbar. In Richard Wagners „Parsifal“-Vorspiel sind Bläser und Streicher bei den Unisoni häufig nicht deckungsgl­eich. Bei der Uraufführu­ng von Wolfgang Rihms routiniert wirkender Auftragsko­mposition „Reminiszen­z. Triptychon und Spruch in Memoriam Hans Henny Jahnn“hat die Stimme von Pavol Breslik, von hinten gehört, nicht die gleiche Intensität wie die Instrument­alklänge. Auch im Finale von Beethovens 9. Symphonie mit der „Ode an die Freude“verlieren sich die Stimmen von Hanna-Elisabeth Müller (Sopran), Wiebke Lehmkuhl (Alt), Pavol Breslik (Tenor) und Bryn Terfel (Bassbarito­n) im Raum.

Die beiden Chöre von NDR und BR dagegen klingen im Rücken des Klangkörpe­rs durchaus präsent. Thomas Hengelbroc­k befeuert mit seinem großen Charisma ein letztes Mal sein NDR-Elbphilhar­monie-Orchester. Der Rest ist Freude und Jubel. Hamburg darf zurecht stolz sein auf das neue Wahrzeiche­n der Stadt.

 ?? FOTO: DPA ?? Die Architektu­r der Hamburger Elbphilhar­monie ist genial und die Akustik hält, was man sich von ihr versproche­n hat.
FOTO: DPA Die Architektu­r der Hamburger Elbphilhar­monie ist genial und die Akustik hält, was man sich von ihr versproche­n hat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany