Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Vielseitiges Gefühl
Eine Ausstellung in Dresden widmet sich der Scham
(KNA) - Schamlose Zeiten? Vielleicht denkt man, mittlerweile mehr Schamlosigkeiten zu beobachten, doch das Gefühl der Scham ist deshalb noch lange nicht auf dem Rückzug. Vielmehr entwickelt die Scham immer neue Facetten. 2009 etwa schaffte es das „Fremdschämen“erstmals in den Duden. In Österreich wurde es ein Jahr später zum Wort des Jahres. Die Ausstellung „Scham. 100 Gründe, rot zu werden“im Deutschen HygieneMuseum in Dresden geht dem wirkmächtigen Gefühl der Scham nach – zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen.
Doch warum schämen wir uns eigentlich? „Es gibt keine Scham, ohne eine vorher errichtete Norm“, erklärt der Ku- rator der Ausstellung, Daniel Tyradellis. „Werden Konventionen verletzt, entsteht Scham.“Die Vielseitigkeit dieses Gefühls demonstriert die Schau mit einer Kombination von medizinhistorischen und ethnologischen Exponaten, interaktiven Stationen und zeitgenössischer Kunst. Insgesamt 250 Objekte bieten Gelegenheit, rot zu werden.
„Beschämung war und ist auch immer eine Strategie, soziale Kontrolle auszuüben“, so Tyradellis. Ein Beispiel dafür ist in der Ausstellung ein Amateurfilm der Organisation „True Love Waits“, einer christlichen Bewegung aus Amerika, die für Enthaltsamkeit vor der Ehe wirbt. Ein Mädchen schluchzt leise in ein Mikrofon. Es trägt ein weißes, ärmelloses Tüllkleid, und eine Männerhand massiert seine rechte Schulter. Die junge Frau stammelt auf Englisch, dass ihr zukünftiger Mann genauso sein solle wie ihr Vater, dem die massierende Hand gehört.
Auch Blasphemie geht nach Ansicht der Ausstellungsmacher nicht selten mit Scham einher. Als Exempel ist „Die Heilige Unterhose von Karl Marx“zu sehen, womit der Künstler Helmut Schwickerath 2012 die Heilig-Rock-Wallfahrt nach Trier aufs Korn nahm. In der Mitte eines „Flügelaltars“ist eine orangefarbene Unterhose zu sehen, rechts und links flankiert von zwei anbetenden Frauen auf Knien in historisierenden blauen, wallenden Gewändern. Es sind die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Haushälterin des 1818 in Trier geborenen Philosophen. Von oben schaut Marx zu, mit „Wundmalen“an den Händen wie der gekreuzigte Jesus.
Scham ist stets auch an kulturelle Normen gebunden. So mag sich ein Europäer über die „Burger-Maske“für Japanerinnen wundern. Auf einer großen, breit ausgeschnittenen Papiertüte ist ein kleiner, weiblicher Mund abgebildet – das japanische Ideal eines Frauenmundes. Mit der Tüte, in der sich der Burger befindet, verdecken die Asiatinnen ihren unvermeidlich breiten Mund beim Hamburger-Essen und ersparen sich und anderen den vermeintlich peinlichen Anblick.
Tiere wiederum haben kein Schamgefühl, und trotzdem lassen sie sich nicht alles gefallen. Dies wird in der Videoaufzeichnung einer Performance der jungen Künstlerin Joanna Rytel deutlich: Sie strippt darin in einem Zoo vor Affen, die sie teils geschockt anblicken und danach wegrennen.
„Werden Konventionen verletzt, entsteht Scham.“
Daniel Tyradellis, Kurator der Ausstellung
Die weibliche Brust
Munter kombiniert die Ausstellung inhaltliche Bezüge auch räumlich: Tabuisierte Körperbereiche wie das männliche Geschlechtsteil oder die weibliche Brust hängen auf der einen Seite der Ausstellungswand, die Darstellung einer „Maria lactans“, der stillenden Gottesmutter, auf der anderen. Das Bild stammt aus der nachreformatorischen Zeit. Die Brust der Madonna ist nur noch ansatzweise hinter Stoff zu erahnen. Bei anderen Darstellungen aus dem 15. Jahrhundert wurde Maria noch mit entblößtem Busen gezeigt – was nachgeborene Betrachter eines prüderen Zeitalters peinlich berührte.
Aber auch der Besucher der Ausstellung erlebt vermutlich den ein oder anderen peinlichen Moment – zumal er selbst während des Rundgangs beobachtet wird. Die Schau im (Lingnerplatz 1) ist bis zum 5. Juni 2017 dienstags bis sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr geöffnet.