Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Seine Stärke ist Gabriels Schwäche
Martin Schulz (SPD) übernimmt in schwierigen Zeiten die Rolle, auf die er sich schon keine Hoffnung mehr gemacht hatte
- Martin Schulz, der „Kissinger aus Würselen“, beherzter Vorkämpfer für die EU, aber ohne jede Regierungserfahrung, soll Kanzlerkandidat und Parteichef der SPD werden. Der Mann, der mehr als zwei Jahrzehnte im EU-Parlament saß, könnte antreten, um Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Bundestagswahl im September vom Thron zu stoßen.
Ist der 61-jährige Mann vom Niederrhein ein Not-Kandidat, jetzt, wo Noch-Parteichef Sigmar Gabriel nach langem Ringen mit sich selbst das Handtuch geworfen hat? Ein zweiter Peer Steinbrück, der in den Ring muss, weil es keine Alternative gibt? Oder ist Schulz ein echter Hoffnungsträger, der mit seiner Energie und internationalen Erfahrung, mit seiner Redebegabung und Angriffslust das Ruder nur neun Monate vor der Wahl noch rumreißen, den Sozialdemokraten womöglich auch als Parteichef neuen Glauben in sich selbst geben kann?
In den Umfragen – und das gab am Ende wohl auch den Ausschlag für Gabriels Rückzug – halten auch die SPD-Mitglieder Schulz für den besseren Herausforderer. Wenn es darum ginge, wer mehr Chancen gegen die Kanzlerin hätte, hat Schulz seit Monaten die Nase deutlich vorn.
Aber diese Einschätzung könnte mehr Ausdruck von Gabriels Schwäche als von Schulz‘ Stärke sein. Denn innenpolitisch ist „Mister Europa“ein unbeschriebenes Blatt. Hoffnung hatten vor allem die Parteilinken in den einstigen Bürgermeister der Kleinstadt Würselen bei Aachen gesetzt, denen Gabriels Kurs nicht klar genug war. In der Tat gibt sich Schulz als Anwalt des kleinen Mannes, beschreibt Johannes Rau als sein großes Vorbild: „Einer seiner wichtigsten Sätze für mich war: ,Wir sind die Schutzmacht der kleinen Leute. Wenn wir sie nicht schützen, wer sonst’“. Doch gilt der langjährige Vorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament nicht wirklich als Vertreter des linken Flügels, eher als Pragmatiker auch mit guten Kontakten zur Wirtschaft. Von einer Koalitionsfestlegung für Rot-Rot-Grün hält er wenig.
Für Schulz wären Kanzlerkandidatur und SPD-Vorsitz die vorläufige Krönung einer beachtlichen Laufbahn. Als junger Mann träumte er von einer Karriere als Fußballspieler. Nach einer schweren Verletzung stürzte er ab. „Ich war ein Sausack, ein fieser Schüler“, erinnert er sich an die düstere Zeit. Offen spricht Schulz über seine Alkoholprobleme als junger Mann, die er mithilfe seines Bruders überwand. „Irgendwann sagte ich mir: Entweder mache ich einen radikalen Schnitt oder ich gehe kaputt. Ich wollte mein Leben nicht wegwerfen: Mit 27 hatte ich dann meine eigene Buchhandlung, von da an ging's bergauf“, sagte Schulz einmal der Illustrierten „Bunte“.
Schulz verließ die Schule ohne Abitur – heute spricht er Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Niederländisch. Diese Kompetenzen könnten dem SPD-Politiker als Kanzlerkandidat zugutekommen. Genauso wie sein diplomatisches Geschick – trotz gelegentlichen Polterns. Dieses Gespür habe er übrigens gemeinsam mit Karl dem Großen, sagte der Karlspreisträger von 2015. Eine zweite Gemeinsamkeit: die Heimat in der Region Aachen.
Im Jahr 1974, da war er 19 Jahre alt, trat der Sohn eines Polizisten und einer CDU-Kommunalpolitikerin in die SPD ein. Mit 31 Jahren eroberte er das Rathaus von Würselen, wurde zum jüngsten Bürgermeister von Nordrhein-Westfalen gewählt.
Seine Qualitäten als Wahlkämpfer stellte Schulz 2014 unter Beweis. Sein Ziel damals: Als Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten den Sprung an die Spitze der mächtigen Kommission zu schaffen. Europaweit auf Wahlkampftournee, in unzähligen Interviews und Fernsehauftritten warb er für sich und für eine sozialere EU, erzielte am Ende ein beachtliches Ergebnis, 27,3 Prozent, ein Plus von 6,5 Punkten gegenüber 2009.
Das Ziel verpasste er trotzdem, musste sich Jean-Claude Juncker von der konservativen Parteienfamilie geschlagen und mit der Präsidentschaft des EU-Parlaments zufrieden geben. Zwar erstritt er sich seitdem das Recht, bei den Gipfeln am Tisch der Staats- und Regierungschefs zu sitzen, zumindest bei den Auftaktgesprächen der Ratssitzungen. Aber dass das seinen Ehrgeiz nicht auf Dauer stillen würde, war vielen Beobachtern in Brüssel und Berlin klar. Nur ein Jahr später tauchten erste Über seinen größten Schock in den 20 Jahren in Brüssel. Berichte auf, der eloquente und polyglotte Sozi, der bei den Pressekonferenzen in Brüssel spielerisch vom Deutschen ins Französische und Englische wechselt, könnte 2017 für die SPD gegen Merkel antreten. „Schmarrn“, hieß es damals aus seinem Umfeld in Brüssel.
Vor Herausforderungen hat sich der Vater von zwei erwachsenen Kindern, der mit einer Landschaftsgärtnerin verheiratet ist, nie gedrückt. Anders als von Gabriel ist von ihm kein Zögern und Zaudern bekannt. Im EU-Parlament legte er sich mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi an, trieb diesen zur Weißglut, bis der ihn für die Rolle eines KZ-Kommandanten in einem italienischen Film vorschlug.
Der Vorfall vor 13 Jahren bescherte Schulz einen beachtlichen Popularitätsschub. In seinen letzten Jahren als EP-Präsident gehörte Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef Viktor Orban zu Schulz’ erbittertsten Gegnern. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise stand er eng an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), zu der er – in seinem Brüsseler Amt – einen guten Draht hatte.
In Krisen mischte sich der Parlamentspräsident gerne persönlich ein. So reiste Schulz als erster hoher Vertreter der EU nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei nach Ankara. Auch in die belgischen Wirren um das zwischen der EU und Kanada ausgehandelte Freihandelsabkommen Ceta schaltete er sich ein.
Als Parlamentspräsident nahm Schulz kein Blatt vor den Mund und prangerte etwa Demokratieabbau in Polen oder Ungarn an. Im Februar 2014 kritisierte er bei einem Besuch im israelischen Parlament die Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen, worauf die Abgeordneten der nationalreligiösen Siedler-Partei Jüdisches Heim unter lautem Protest den Saal verließen.
Schulz genießt Ansehen in Brüssel. Auch wenn nicht alle immer glücklich mit seiner Art der Amtsführung waren. Manche hätten sich einen neutraleren Parlamentspräsidenten gewünscht; einen, der mehr koordiniert und seine Position weniger für die eigene Politik nutzt. Schulz jedoch mischte sich ein. Um das Handelsabkommen Ceta zu retten, lud er die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland spontan zum Frühstück ein. Mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker tauschte er sich regelmäßig über aktuelle Dossiers aus. Ob EU-TürkeiBeziehungen, Griechenland oder Flüchtlingskrise: Schulz hatte fast immer einen Kommentar für die Medien parat.
„Irgendwann sagte ich mir: Entweder mache ich einen radikalen Schnitt oder ich gehe kaputt.“Über seinen Absturz in den Alkoholismus als junger Mann.
In Brüssel kennt er alle Korridore
Ein Ereignis im abgelaufenen Jahr schockierte den Europa-Enthusiasten aber besonders: der Brexit. „Als ich die jungen Menschen weinen gesehen habe, war ich emotional“, sagte er bei seiner letzten Pressekonferenz in Brüssel: „Wir haben das Drama mit dem Brexit unterschätzt.“Aber: Nicht Emotionen führten zu Lösungen, sondern Vernunft, sagte er dann noch.
Im EU-Parlament kennt Schulz alle Korridore, jedes Geräusch und viele Gesichter. Auch in anstrengenden Zeiten bemühte er sich um ein Lächeln, Freundlichkeit und Zeit – ob für die Facebook-Fans des Parlaments, seine Mitarbeiter oder für Journalisten. Auch christliche Werte spielen für Schulz im Alltag eine zentrale Rolle: Religion und Glauben seien für viele Menschen wichtig, um Orientierung im Leben zu finden, sagte der einstige Jesuitenschüler der Katholischen NachrichtenAgentur (KNA).
Seit im vergangenen November klar war, dass Schulz im Januar das Feld an der EU-Parlamentsspitze für einen Konservativen räumen muss und er seinen Wechsel nach Berlin verkündete, meldete er sich noch häufiger als sonst in Interviews zu Wort, zeigte seine Ambitionen auf Höheres. Doch mehr als die Kanzlerschaft galt der Posten des Außenministers – die Nachfolge von FrankWalter Steinmeier – als Paradeposten für „Mister Europa“.
Nun muss er aus dem Nichts ein Wahlkampfteam um sich herum aufstellen, die Führung im WillyBrandt-Haus übernehmen. Es wird seine bislang größte Herausforderung.
„Wir haben das Drama mit dem Brexit unterschätzt.“