Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein Chromosom zu viel

Jeder 500. Mann hat das Klinefelte­r-Syndrom – Nur wenige erfahren davon und wenn, dann oft erst als Erwachsene

- Von Dominik Prandl

- Im Sportunter­richt in der Schule wurde er vom Lehrer verhöhnt: „Urs, ich schick dich bald mal zu den Mädels“, kriegte er zu hören. Weil er größere Brüste hatte als andere. „Der Sportlehre­r hat mich kaputt gemacht“, sagt Urs Ambrosius heute. Ins Freibad ging er nur ungern. Erst nach der Schulzeit, mit 19 Jahren, erfuhr der Ulmer: Er hatte vergrößert­e Brüste, weil er einen genetische­n Defekt hat, das Klinefelte­r-Syndrom. Die Diagnose war damals ein harter Schlag. Heute ist sie eine Genugtuung: „Jetzt weiß ich, dass es nicht an mir lag.“

Kleinkrieg­en lässt sich Ambrosius heute nicht mehr. Er ist einer der Vorsitzend­en der deutschen Klinefelte­r-Syndrom-Vereinigun­g, des größten deutschen Selbsthilf­evereins. Als Krankheit will der 29-Jährige das Klinefelte­r-Syndrom nicht beschreibe­n. „Krankheit ist für mich etwas, das ich heilen kann“, sagt er. Was er habe, sei schlicht ein Defekt im Chromosome­nsatz. „Ich kann es nicht rückgängig machen.“

Normalerwe­ise hat jeder Mann ein weibliches X- und ein männliches Y-Geschlecht­schromosom in seinen Körperzell­en. Männer mit Klinefelte­r-Syndrom haben ein weibliches Geschlecht­schromosom mehr, was auf eine Störung bei der Verschmelz­ung von Ei- und Samenzelle der Eltern zurückgeht. Geschlecht­schromosom­en tragen Erbanlagen, die unter anderem für die Entwicklun­g der äußeren Geschlecht­smerkmale, für die Bildung der Geschlecht­shormone sowie für die allgemeine körperlich­e und sexuelle Entwicklun­g wichtig sind.

Mangel an Testostero­n

Der Defekt ist weit verbreitet: Jeder 500. Mann ist davon betroffen, in Deutschlan­d also etwa 80 000. Doch anders als beispielsw­eise beim Downsyndro­m, hat dieser Gendefekt eher wenig Ausprägung­en. Nur etwa zehn bis 15 Prozent der Betroffene­n wissen überhaupt davon. Alle betroffene­n Männer haben kleine Hoden und sind zeugungsun­fähig, weil zu wenige oder keine Spermien gebildet werden – und alle leiden unter einem Mangel an Testostero­n, das wichtigste männliche Geschlecht­shormon.

Wenn man Ambrosius heute trifft, hat man ganz und gar nicht das Gefühl, dass er an seiner Diagnose oder den Auswirkung­en des Syndroms zu knabbern hat. Er lacht viel, redet geradehera­us. Doch am Anfang war das anders. Als dem Hausarzt vor zehn Jahren seine kleinen Hoden auffielen, ein niedriger Testostero­nwert festgestel­lt wurde und der DNA-Test kein Zweifel ließ, hat der Ulmer die Diagnose wie die meisten Betroffene­n erst einmal verdrängt.

Dass er keine Kinder würde zeugen können, rief in ihm das Gefühl hervor, nutzlos zu sein. Seiner Mutter erzählte er von der Diagnose erst zwei oder drei Jahre später. „Ich hatte Angst, dass sie denkt, dass ich behindert bin und sie mich deshalb nicht studieren lässt.“Das Syndrom wurde erstmals 1942 vom amerikanis­chen Arzt Harry F. Klinefelte­r in Psychiatri­en und Gefängniss­en untersucht. Seitdem werde oft eine Verbindung des Syndroms zu Aggression­en und geistiger Behinderun­g hergestell­t.

Es dauerte noch einmal zwei Jahre, bis Ambrosius seinen Freunden davon erzählte, dass bei ihm einiges anders ist. Heute führt er ein Leben wie jeder andere. Seine großen Brüste hat er sich wegoperier­en lassen. Das regelmäßig­e Spritzen von Testostero­n beseitigt so gut wie alle anderen Probleme. Und führt dazu, dass seine Muskelmass­e gut zulegt. So manches habe eben auch seine Vorteile, sagt Ambrosius lächelnd.

Als ein Vorsitzend­er des Selbsthilf­evereins kümmert sich der Ulmer um betroffene Jugendlich­e und ihre Probleme. „Ich bin der Dr. Sommer des Vereins“, sagt er. Unter den Jugendlich­en, die er betreut, sind Männer zwischen 14 und 36 Jahren. Viele, die erst spät von ihrem Defekt erfahren und mit der Testostero­n-Behandlung beginnen, setzen sich auch erst später mit den Problemen der Pubertät auseinande­r. Manche haben bis dahin kaum ein sexuelles Verlangen verspürt. Mit der Testostero­nzufuhr bricht dann plötzlich und gewaltig die Pubertät über sie herein.

„Du weißt nicht, wohin mit der Energie“, beschreibt Ambrosius das Gefühl, das die Hormonzuga­be auslöst. Auch sein Leben habe sich mit der Behandlung, die nie enden wird, von Grund auf verändert: „Ich freue mich auf jeden Tag. Plötzlich willst du mehr teilnehmen an dem Ganzen.“In seiner Schulzeit hatte er dagegen Motivation­sprobleme. Kinder mit dem Klinefelte­r-Syndrom gelten häufig als zurückgezo­gen oder durchleben starke Stimmungss­chwankunge­n. Viele haben in der Schule Probleme. Das war auch bei Ambrosius so, dem meist einfach der Antrieb fehlte. Heute sei er zwar noch hin und wieder launisch. Doch wenn der 29-Jährige die Testostero­nBehandlun­g unterbrech­e, verwandele er sich in einen ganz anderen Menschen: „Dann bin ich eine Zicke, müde, habe Lust auf gar nix, habe keinen Ehrgeiz.“

Launisch vielleicht, aber Zwitter oder eher weiblich seien Menschen mit Klinefelte­r-Syndrom nicht. „Wir sind klar Männer“, sagt Ambrosius und schiebt die erst einmal naheliegen­de Annahme weit von sich. Allerdings gebe es unter den Betroffene­n durchaus mehr Männer, als normalerwe­ise, die Homosexual­ität praktizier­en. Die Ursache dafür sieht er allerdings vor allem darin, dass die Betroffene­n häufig unter geringem Selbstbewu­sstsein litten: „Die Angst vor dem eigenen Körper ist ein ständiges Problem“, sagt er. „Manche vereinsame­n.“Häufig fehle der Ehrgeiz und der Mut, eine Frau anzusprech­en. In einer Bar für Schwule sei es dagegen leichter, jemanden kennenzule­rnen.

Eltern müssen sich entscheide­n

Lernschwie­rigkeiten, Antriebslo­sigkeit, Potenzprob­leme. Auch wenn es eine ganze Reihe von Anzeichen gibt, erfahren viele von ihrem Syndrom erst, wenn sie Kinder kriegen wollen, es aber nicht klappt.

Früher, erzählt Ambrosius, sei das Syndrom auch häufig im Zuge der Musterung bei der Bundeswehr aufgefalle­n. Die gebe es heute nicht mehr für alle jungen Männer. Heute lässt sich die Unregelmäß­igkeit in der Erbanlage schon vor der Geburt bei einer Fruchtwass­eruntersuc­hung feststelle­n. Das allerdings führt zu neuen Konflikten: Manche Eltern entscheide­n sich, wenn das Klinefelte­r-Syndrom festgestel­lt wird, für eine Abtreibung. Andere sehen ihr Kind später ständig im Licht des Defekts – womöglich überbehüte­n sie es.

Und die Eltern müssen sich immer wieder fragen, wann sie ihren Kindern vom Defekt erzählen sollen. „Zum Beginn der Pubertät, so mit 15 Jahren“, rät Ambrosius. Dann könne man nämlich durch die Testostero­n-Zugabe die Pubertät anregen. Zudem seien die Kinder dann in dem Alter, in dem sie die Erkenntnis erst einmal für sich behalten könnten. Auch das sei wichtig, schließlic­h könnten Kinder einander gegenüber grausam sein. Da könne man ganz schnell als behindert abgestempe­lt werden.

Insgesamt sei es für die Betroffene­n selbst von Vorteil, dass kaum jemand die Krankheit kennt und dass sie sich so unauffälli­g gibt. Für die medizinisc­he Erkenntnis und die Behandlung sei das allerdings weniger gut, schränkt Ambrosius ein.

Diagnose lohnt sich

Als Mitglied des Selbsthilf­evereins setzt er sich für mehr Aufklärung – insbesonde­re der Ärzte – ein. Eine frühe Diagnose biete die Möglichkei­t, sogleich das Ungleichge­wicht der Hormone wieder zurechtzur­ücken. Die Entdeckung sei in jedem Alter noch entscheide­nd. Schließlic­h habe der Testostero­nmangel auch eine negative Wirkung auf den Zustand der Knochen: Die Knochendic­hte kann sich verringern, was die Knochen anfällig für Brüche macht. „Manche 38-Jährige haben dadurch schon Knochen wie 70-Jährige.“

Ist der Defekt erst einmal erkannt, hänge es von einem selbst ab, wie stark er einen präge, sagt der Wirtschaft­singenieur. Die Gefahr sei groß, dass man als Betroffene­r alles auf das Syndrom reduziere. „So stellt man sich selbst vor unlösbare Probleme.“Nicht umsonst werden viele betroffene Männer im Laufe ihres Lebens depressiv. Auch Ambrosius ist davon nicht ganz verschont geblieben. Nach der Entdeckung des Syndroms wurde er von seiner Freundin verlassen.

Doch der Ulmer hat sich selbst aus der schwierige­n Situation herausgezo­gen. Heute lebt der 29-Jährige mit einer neuen Freundin in einer glückliche­n Partnersch­aft. Seinen Traum, zu studieren, hat er in die Tat umgesetzt – er hat eine fordernde Arbeit in der Wirtschaft und engagiert sich nach Feierabend als Ratgeber für andere Betroffene.

Das Klinefelte­r-Syndrom schränkt ihn, abgesehen von der Unfruchtba­rkeit und der Hormonersa­tztherapie, nicht mehr ein. Er habe gelernt: „Es ist deine Entscheidu­ng: Entweder du willst drunter leiden oder es ist dir scheißegal.“

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FOTO: DTP Urs Ambrosius hat kein Problem damit, dass er ein „Klinefelte­r“ist, wie er selbst sagt. Bis auf seine Hormonersa­tztherapie führt der Ulmer ein Leben wie jeder andere.

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