Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Höcke ausgeladen

AfD-Politiker bei Holocaust-Gedenkfeie­r unerwünsch­t

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(dpa/clak) Der Zentralrat der Juden in Deutschlan­d hat dazu aufgerufen, die Erinnerung an die Schrecken der Nazi-Herrschaft wachzuhalt­en. „Gerade angesichts des wachsenden Rechtspopu­lismus“sei das Gedenken wichtiger denn je, erklärte der Zentralrat am Donnerstag, einen Tag vor dem 72. Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz.

Auch die Kulturwiss­enschaftle­rin Aleida Assmann sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“, wie wichtig es sei, die Auseinande­rsetzung mit der deutschen Vergangenh­eit lebendig zu halten. Kritiker der Erinnerung­skultur wie der AfD-Politiker Björn Höcke richteten sich „gegen einen demokratis­chen Grundkonse­ns in der Gesellscha­ft“. Die für das frühere KZ Buchenwald zuständige Stiftung erklärte Höcke derweil zur unerwünsch­ten Person für die heutige Gedenkvera­nstaltung. Höcke kündigte an, dennoch zu erscheinen.

- Die Kulturwiss­enschaftle­rin Aleida Assmann hält die Erinnerung­skultur in Deutschlan­d für notwendig, um sich von den NSVerbrech­en während des Zweiten Weltkriege­s dauerhaft zu distanzier­en. Das Ansehen Deutschlan­ds im Ausland beruhe „genau auf dieser Form der Auseinande­rsetzung mit der Vergangenh­eit“, sagte Assmann im Gespräch mit Claudia Kling.

Frau Assmann, heute, am 27. Januar, ist Holocaust-Gedenktag. Warum hat sich dieser Tag bislang nicht im Bewusstsei­n der Menschen etabliert?

Weil wir vor dem Holocaust-Gedenktag, den Roman Herzog ja erst 1996 eingeführt hat, schon andere Gedenktage hatten, die stärker auf das zielen, was in Deutschlan­d passiert ist. Jeder weiß beispielsw­eise, dass am 9. November die Reichspogr­omnacht war. Die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee war dagegen weit von uns weg und ist nicht so tief im Bewusstsei­n der Deutschen verankert.

Brauchen wir überhaupt Gedenktage, Mahnmale und Museen – und wenn ja, warum brauchen wir sie?

Die Erinnerung läuft auf ganz verschiede­nen Ebenen und mit verschiede­nen Akteuren ab. Der Staat ist eine wichtige Instanz dabei, da ist Deutschlan­d kein Sonderfall. Er gibt die Rahmenbedi­ngungen des Erinnerns vor, dadurch entsteht eine gewisse Stabilität im Selbstvers­tändnis der Nation oder des Kollektivs. Aber eine gemeinsame Erinnerung­skultur braucht mehr als das. Das Entscheide­nde geschieht auf lokaler Ebene, dort, wo die Menschen wohnen, sich die Zivilgesel­lschaft formiert, und neue Formen der Auseinande­rsetzung mit der Vergangenh­eit erfunden werden.

Erinnerung­skultur funktionie­rt also nur, wenn die Bürger das mit Leben füllen, was der Staat als Rahmenbedi­ngung vorgibt?

Denken Sie zum Beispiel an die Stolperste­in-Projekte in vielen Kommunen. Sie zeugen von einer lebendigen Erinnerung­skultur, die eben nicht an den Staat delegiert werden kann.

Was halten Sie überhaupt von staatlich genormter Gedenkkult­ur?

Jede Nation hat ihre Feiertage, ihre Gedenkorte und ihre entspreche­nden Riten. Das ist ganz normal. Aber Deutschlan­d hat ein großes Problem mit seiner nationalen Identität. Wir haben jahrzehnte­lang sozusagen nationalst­aatsfern gelebt und uns als Europäer fühlen dürfen. Erst nach der Wiedervere­inigung und mit dem Wechsel nach Berlin sind wir wieder in den Zustand eines Nationalst­aats gekommen. Deshalb haben wir auch keinen Nationalfe­iertag, der auf ein historisch­es Datum zurückgeht – und das ist eine Ausnahme. Die historisch­en Feiertage dieses Landes haben etwas mit der NS-Geschichte zu tun.

Der Schriftste­ller Martin Walser sprach 1998 in seiner Paulskirch­enrede mit Bezug auf den Holocaust von einer „unaufhörli­chen Präsentati­on der Schande“, Rudolf Augstein äußerte sich ähnlich. Und jetzt wird diese Wortwahl als Provokatio­n von Rechtsauße­n benutzt. Wieso fällt es manchen Menschen so schwer, stolz auf unsere Erinnerung­skultur zu sein?

Als Martin Walser damals in der Paulskirch­e sprach, dachten viele, das sei die Meinung einer Generation, die den Krieg noch miterlebt hat und die langsam aus der Mitte der Gesellscha­ft verschwind­en wird. Jetzt haben wir aber gesehen, dass der AfD-Politiker Björn Höcke, der zur übernächst­en Generation gehört, dasselbe Argument wiederaufl­egt. Man darf aber Walser und Höcke nicht in einen Topf werfen. Herr Höcke gehört zu denen, die sich gegen einen demokratis­chen Grundkonse­ns in dieser Gesellscha­ft wenden. Deutschlan­d hat diese Erinnerung­skultur aufgebaut mit dem Ziel, sich von den Verbrechen gegen die Menschlich­keit, die es im Zweiten Weltkrieg begangen hat, dauerhaft zu distanzier­en. Wir erinnern uns also, um nicht zu wiederhole­n. Menschen wie Höcke, die intensiv mit Wiederhole­n beschäftig­t sind, haben nicht erkannt, dass das Ansehen Deutschlan­ds im Ausland genau auf dieser Form der Auseinande­rsetzung mit der Vergangenh­eit beruht. Sie denken immer noch in den Kategorien von Ehre und Schande, ein vollkommen überholtes, historisch­es Modell aus dem 19. Jahrhunder­t.

Zum Erinnern gehört auch das Vergessen. Den Satz „Es muss ja mal vorbei sein“haben Sie sicherlich schon oft gehört.

Das war der Satz, der von 1945 an immer zu hören war. Alle Deutschen wollten einen Neubeginn, sie wollten eine Chance, ein zweites Leben und eine Demokratie aufbauen. Das war ja auch ein großartige­s Zukunftspr­ojekt – um den Preis des „Schlussstr­ichs“. Erst nach vier Jahrzehnte­n gelang es, eine Erinnerung­skultur zu etablieren, die auf einem „Trennungss­trich“beruht. Das bedeutet: Wir können die Vergangenh­eit nur hinter uns lassen, wenn wir uns mit ihr auseinande­rsetzen und sie bewusst verarbeite­n.

Aber wer entscheide­t, wann genug verarbeite­t wurde?

Wenn Sie nach einem Recht auf Vergessen fragen, dann muss das von den Opfern ausgehen. Dort, wo es Täter und Opfer gibt, besteht eine Asymmetrie in der Gewaltbezi­ehung – mit Allmacht auf der einen und Ohnmacht auf der anderen Seite. In einer solchen Konstellat­ion gibt es keine Möglichkei­t, sich gemeinsam auf das Vergessen zu einigen. Da liegt es ausschließ­lich an den Opfern zu entscheide­n, ob sie das, was geschehen ist, vergessen wollen. Im Hinblick auf den Holocaust ist es so, dass sich die Opfer für eine starke Erinnerung­skultur entschiede­n haben.

Es wird ein großer Einschnitt sein, wenn demnächst alle Zeitzeugen, sowohl Opfer als auch Täter, tot sein werden. Was bedeutet das für die Erinnerung­skultur?

Die Aura der Zeitzeugen ist durch nichts zu ersetzen – auch nicht durch Hologramme oder sonstige technische Tricks. Die Präsenz der Zeitzeugen in Schulen und an Gedenkstät­ten hat die jungen Leute ganz anders in ihren Bann ziehen können und ihnen diese Vergangenh­eit lebendig gemacht. Diese Vergangenh­eit wird aber nicht verschwind­en, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Wir haben Tausende von Videozeugn­issen, es gibt neue Filme, die Vergangenh­eit vergegenwä­rtigen, und wir dürfen die Rolle der Künste und der Medien nicht unterschät­zen. Die neuen Generation­en haben viele Wege gefunden, um Wissen aus den Archiven zu aktualisie­ren und neu zu beleben.

Es wird immer wieder behauptet, die junge Generation sei des Gedenkens an den Holocaust überdrüssi­g. Teilen Sie diese Einschätzu­ng?

Auch das ist wieder so eine Behauptung, die sich hält. Erst hieß es: Wir haben nichts gewusst, dann hieß es: Wir können es nicht mehr hören. Das ging sehr schnell von einem Extrem zum anderen. In der Realität ist es so, dass der Geschichts­unterricht zum Zweiten Weltkrieg in den Schulen sehr zurückgefa­hren wurde. Deshalb zählt das Argument Überdruss nicht. Die jungen Leute finden auch wieder neue Zugänge zur Geschichte – auch durch Schüler mit Migrations­hintergrun­d: Sie können das, was sie hier erfahren, mit ihrer eigenen Geschichte vergleiche­n. Denken Sie an die Türkei und den Genozid an den Armeniern.

Ihrer Meinung nach sollte das Erinnern nicht an Ländergren­zen haltmachen. Wie erleben Sie die momentanen Abschottun­gstendenze­n der Nationen?

Wir waren in Europa bereits so weit, dass die Nationen ihre Erinnerung­en zusammenge­legt und gemeinsam erforscht haben. Das hat zum Teil schon sehr gut geklappt – beispielsw­eise mit Frankreich und mit Polen. Ich sehe Europa als idealen Rahmen, um die eigene Nationalge­schichte auch transnatio­nal erzählen zu können. Diese Entwicklun­g wird im Moment radikal rückgängig gemacht. Wir erleben eine Nationalis­ierung der Geschichte in den Museen und einen Rückfall in eine nationale Selbstbesp­iegelung, in der Begriffe wie Stolz, Ehre und das eigene Leiden Konjunktur haben.

Und sehen Sie eine Möglichkei­t, diese Entwicklun­g zu stoppen?

Wir dürfen nicht nur auf die Regierunge­n in Ungarn oder in Polen schauen. In diesen Ländern gibt es noch sehr gut funktionie­rende Zivilgesel­lschaften, die sich die Geschichte nicht aus der Hand nehmen und vom Staat bevormunde­n lassen. Es gibt diesen Widerstand, und es wird nicht einfach alles angenommen. Insofern hoffe ich, dass sich diese Tendenz noch einmal drehen lässt.

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FOTO: DPA Das Holocaust-Mahnmal in Berlin – ein Ort der Erinnerung: „Wir können die Vergangenh­eit nur hinter uns lassen, wenn wir uns mit ihr auseinande­rsetzen und sie bewusst verarbeite­n“, sagt Aleida Assmann.

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