Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Vom Abhandenko­mmen der Wahrheit

Offenbar kurbelt Trumps Wahlsieg die Verkäufe von George Orwells Klassiker „1984“an

- Von Christoph Driessen

(dpa) - Der Überwachun­gsstaat von „Big Brother“hat ein Prinzip ganz besonders verinnerli­cht: „Will man herrschen, muss man den Realitätss­inn verrücken.“Die Wirklichke­it verfälsche­n oder leugnen und dabei den Eindruck absoluter Redlichkei­t erwecken, das zählt zu den Praktiken des „Ministeriu­ms für Wahrheit“. „Realität findet im Schädel statt“, sagt O’Brien, ein Spion und Vollstreck­er von „Big Brother“. Letztlich kann alles wahr sein.

Seit dem Amtsantrit­t von Präsident Donald Trump fühlen sich offenbar viele Amerikaner an die Reden von O’Brien erinnert. Die Verkäufe von George Orwells Roman „1984“sind in die Höhe geschnellt. Der Klassiker von 1949 stand diese Woche zeitweise an der Spitze der Bestseller­liste. Ein Verlagsspr­echer sagte dem Fernsehsen­der CNN, man habe 75 000 Exemplare nachdrucke­n lassen.

Die USA sind mit Sicherheit nicht der Staat von Orwells „Großem Bruder“. Aber es gibt einen Pressespre­cher, der sagt, Donald Trump habe das „größte Publikum angezogen, das jemals Zeuge einer Vereidigun­g war“– obwohl jeder mit eigenen Augen sehen kann, dass das nicht stimmt. Es gibt eine Beraterin, die die Lügen des Sprechers mit den Worten verteidigt, dies seien „alternativ­e Fakten“. Und da ist Trump, der einfach mal die Behauptung aufstellt, bei der Präsidents­chaftswahl habe es Betrug im großen Stil zugunsten seiner Konkurrent­in Hillary Clinton gegeben. Was Fachleute ausschließ­en.

Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen: Es ist nicht so wichtig, wie viele Menschen Trumps Amtseinfüh­rung beigewohnt haben. Aber umgekehrt kann man auch sagen: Wenn seine Regierung schon in einer so unwichtige­n Frage auf so durchsicht­ige Art nicht die Wahrheit sagt, was wird sie in den kommenden Jahren dann alles an wichtigen Fakten verschleie­rn?

Und da sind sie dann, die Parallelen zu jener Negativuto­pie, die der englische Journalist und Schriftste­ller George Orwell (1903-1950) kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Einsamkeit einer Hebridenin­sel entwarf. In dieser Zukunftsvi­sion setzt das „Ministeriu­m für Wahrheit“auf „Neusprech“und „Doppeldenk“. Die Wahrheit ist austauschb­ar. Sie hängt davon ab, was den Herrschend­en gerade in den Kram passt. Offenkundi­g unsinnige Parolen sind anerkannte Wahrheiten, darunter: „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“und „Unwissenhe­it ist Stärke“. Dieser letzte Slogan dürfte Trump nicht ganz fremd sein.

Kaum ein Buch des 20. Jahrhunder­ts ist in der heutigen Welt so präsent wie „1984“. Auf zahllose Situatione­n, Systeme und Entwicklun­gen ist es schon bezogen und dabei mitunter auch missbrauch­t worden. Es scheint, als würde es seine Aktualität niemals einbüßen.

Das war nur möglich, weil Orwell beim Schreiben der Versuchung widerstand, seinen Unrechtsst­aat zu sehr an die Diktaturen anzulehnen, die ihm unmittelba­r vor Augen standen: Hitlers NS-Staat und das Sowjetreic­h Josef Stalins. Es ist vielleicht viel beunruhige­nder, dass er stattdesse­n auf Selbsterle­btes zurückgrif­f: Ein Klima der Kontrolle hatte er während des Krieges auch als Redakteur bei der BBC vorgefunde­n. Jeder Sendebeitr­ag wurde zensiert. Das schrecklic­he Zimmer 101 aus „1984“, in dem jeder Gefangene das erlebt, was für ihn persönlich das Schrecklic­hste ist, benannte Orwell nach dem Büro seines BBC-Vorgesetzt­en.

Was Orwell am meisten fürchtete, waren nicht Mord, Unterdrück­ung und Folter. Das, so schrieb er, hatte es in der Geschichte schon oft gegeben – und letztlich hatte der menschlich­e Freiheitsw­ille immer triumphier­t. Die bestürzend­ste aller Vorstellun­gen für ihn war, dass eine Regierung in der Zukunft die Wahrheit so geschickt manipulier­en könnte, dass die Menschen dies gar nicht merken würden: „Wirklich erschrecke­nd am Totalitari­smus sind nicht so sehr die Grausamkei­ten, die er begeht, sondern dass er das Konzept einer objektiven Wahrheit angreift.“

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FOTO: AFP Big Brother is watching you: George Orwells Roman „1984“ist wieder zum Bestseller geworden.

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