Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Neue Bücher über das Unbegreifliche
Nachfahren und Zeitzeugen erzählen, wie sich der Holocaust auf ihr Leben ausgewirkt hat
- Wohin antisemitische und rassistische Hetze führen kann, zeigt die europäische Geschichte mit dem Holocaust. Viele Texte, Filme, Ausstellungen und Berichte sorgen dafür, dass eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit niemals in Vergessenheit gerät. Kurz vor dem heutigen Gedenktag an die NS-Opfer sind zwei Bücher erschienen, die das tragische Thema auf eine ungewohnte Weise aufgreifen.
Schwere des Schweigens
Mit „Nach dem Schweigen“schlagen Lillian Gewirtzman und Karla Nieraad ein eindrückliches Kapitel auf. Die jüdische Autorin aus New York und die Leiterin des Stadthauses Ulm haben ein Buch mit autobiografischen Geschichten von Nachfahren jüdischer Holocaust-Überlebender und Deutscher herausgegeben. Darin dokumentieren sie, wie die Erlebnisse der Eltern und Großeltern auch das Leben nachfolgender Generationen beeinflussen.
Die Texte sind kurz und leicht zu lesen. Sie zeigen, wie sehr das schwierige Thema betroffene Familien auch 72 Jahre nach Kriegsende noch beeinflusst. Die Kinder und Enkel der Zeitzeugen berichten über eine „Verschwörung des Schweigens“in den Nachkriegsjahren. Viele haben Mühe zu verstehen, was ihre Angehörigen damals wirklich durchmachten oder verübten, weil diese häufig schwiegen oder nur oberflächlich über ihre Erlebnisse erzählten. War der eigene Vater nun ein bekennender Nazi oder nicht? Wie fühlt es sich an, als Jude jederzeit mit dem Tod rechnen zu müssen?
Es ist ein Nebeneinander von Erfahrungen, das an vielen Stellen erstaunt, entsetzt und überrascht. Gleichzeitig macht es aber auch bewusst, wie sehr die weit zurückliegenden, fürchterlichen Geschehnisse Nachfahren beider Seiten noch immer beschäftigen. Ihre Zeilen verdeutlichen, wie sie das Unbegreifliche zu begreifen versuchen, um sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern oder Großeltern arrangieren zu können. Manche haben es geschafft, anderen fällt es noch immer schwer. Durch „Nach dem Schweigen“können Außenstehende diesen anhaltenden Prozess der Vergangenheitsbewältigung gut nachempfinden.
Ihre eigene Lebensgeschichte hatte Lillian Gewirtzman zur Veröffentlichung des Buches motiviert. Die heute 84-Jährige wurde in Polen geboren und ist dem Tod als Kind nur knapp entkommen. Als Fünfjährige musste sie mit ihrer Familie vor den fanatisierten Schergen quer durch die Sowjetunion flüchten. Anschließend landete sie in einem Lager für „Displaced Persons“(Vertriebene) in Ulm, wo sie zwei Jahre verbrachte. Danach lebte sie bis 1951 in Feldafing, bevor sie mit ihrer Familie nach Amerika auswanderte.
Vergebung statt Hass
Shlomo Graber kennt das Gefühl, dem Tode nahe zu sein – er hat den Holocaust überlebt. Als Jugendlicher kam er in drei Konzentrationslager, musste bei Görlitz einen Todesmarsch überstehen. Obwohl er viel Schreckliches erlebte, ließ er sich nach Kriegsende nicht von Zorn und Hass übermannen. Trotz des unvorstellbar großen Leids, gelang es ihm schon mit 18 Jahren, zu vergeben. Es war seine fürsorgliche Mutter, die ihm mit auf den Weg gab: „Lass keinen Hass in dein Herz.“Sie sagte es an der Rampe in Auschwitz-Birkenau, wo sie wie viele Verwandte kurz darauf vergast wurde. Nur sein Vater überlebte, nach qualvollen Jahren voller Folter.
In seinem Buch „Der Junge, der nicht hassen wollte“erzählt Graber chronologisch seine Lebensgeschichte. Sie beginnt mit seiner glücklichen Kindheit in einem ungarischen Städtchen. Dank des sehr angenehm zu lesenden Sprachstils, taucht der Leser rasch ein in die kleinbürgerliche, jüdische Lebenswelt, die dort früher so voller bunter Facetten und lebensfroher Menschen war. Doch mit den eingestreuten politischen Ereignissen rund um „den kleinen Mann mit dem Schnauzer“lässt Graber den drohenden Schrecken allmählich näherrücken.
Begleitet von sensiblen Illustrationen, schildert er in der zweiten Buchhälfte bedrückend detailliert über Deportation, Selektion, Lagerhaft und Zwangsarbeit. Erst nach Hitlers Selbstmord verkündet der SS-Mann im KZ die lang erhofften Worte: „Meine Herren, Sie sind frei.“So seien die Häftlinge niemals zuvor angesprochen worden. Nur „Menschen“sei diese Ehre zuteil geworden.
Bei vielen Schulbesuchen sprach Graber vor Jugendlichen über seine Erlebnisse. Sie erschüttern, tragen aber auch eine Botschaft in sich: Hass darf niemals die Seele vergiften. Die Herausgeberinnen stellen ihr Buch „Nach dem Schweigen“heute um 20 Uhr im Stadthaus Ulm vor. Der Eintritt ist frei. Lillian Gewirtzman, Karla Nieraad (Hrsg.): Nach dem Schweigen, Geschichten von Nachfahren, Klemm-Oelschläger, 164 Seiten, 14,80 Euro. Shlomo Graber: Der Junge, der nicht hassen wollte. Eine wahre Geschichte, Riverfield, 220 Seiten, 19,90 Euro.