Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Neue Bücher über das Unbegreifl­iche

Nachfahren und Zeitzeugen erzählen, wie sich der Holocaust auf ihr Leben ausgewirkt hat

- Von Mark Hänsgen

- Wohin antisemiti­sche und rassistisc­he Hetze führen kann, zeigt die europäisch­e Geschichte mit dem Holocaust. Viele Texte, Filme, Ausstellun­gen und Berichte sorgen dafür, dass eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit niemals in Vergessenh­eit gerät. Kurz vor dem heutigen Gedenktag an die NS-Opfer sind zwei Bücher erschienen, die das tragische Thema auf eine ungewohnte Weise aufgreifen.

Schwere des Schweigens

Mit „Nach dem Schweigen“schlagen Lillian Gewirtzman und Karla Nieraad ein eindrückli­ches Kapitel auf. Die jüdische Autorin aus New York und die Leiterin des Stadthause­s Ulm haben ein Buch mit autobiogra­fischen Geschichte­n von Nachfahren jüdischer Holocaust-Überlebend­er und Deutscher herausgege­ben. Darin dokumentie­ren sie, wie die Erlebnisse der Eltern und Großeltern auch das Leben nachfolgen­der Generation­en beeinfluss­en.

Die Texte sind kurz und leicht zu lesen. Sie zeigen, wie sehr das schwierige Thema betroffene Familien auch 72 Jahre nach Kriegsende noch beeinfluss­t. Die Kinder und Enkel der Zeitzeugen berichten über eine „Verschwöru­ng des Schweigens“in den Nachkriegs­jahren. Viele haben Mühe zu verstehen, was ihre Angehörige­n damals wirklich durchmacht­en oder verübten, weil diese häufig schwiegen oder nur oberflächl­ich über ihre Erlebnisse erzählten. War der eigene Vater nun ein bekennende­r Nazi oder nicht? Wie fühlt es sich an, als Jude jederzeit mit dem Tod rechnen zu müssen?

Es ist ein Nebeneinan­der von Erfahrunge­n, das an vielen Stellen erstaunt, entsetzt und überrascht. Gleichzeit­ig macht es aber auch bewusst, wie sehr die weit zurücklieg­enden, fürchterli­chen Geschehnis­se Nachfahren beider Seiten noch immer beschäftig­en. Ihre Zeilen verdeutlic­hen, wie sie das Unbegreifl­iche zu begreifen versuchen, um sich mit der Vergangenh­eit ihrer Eltern oder Großeltern arrangiere­n zu können. Manche haben es geschafft, anderen fällt es noch immer schwer. Durch „Nach dem Schweigen“können Außenstehe­nde diesen anhaltende­n Prozess der Vergangenh­eitsbewält­igung gut nachempfin­den.

Ihre eigene Lebensgesc­hichte hatte Lillian Gewirtzman zur Veröffentl­ichung des Buches motiviert. Die heute 84-Jährige wurde in Polen geboren und ist dem Tod als Kind nur knapp entkommen. Als Fünfjährig­e musste sie mit ihrer Familie vor den fanatisier­ten Schergen quer durch die Sowjetunio­n flüchten. Anschließe­nd landete sie in einem Lager für „Displaced Persons“(Vertrieben­e) in Ulm, wo sie zwei Jahre verbrachte. Danach lebte sie bis 1951 in Feldafing, bevor sie mit ihrer Familie nach Amerika auswandert­e.

Vergebung statt Hass

Shlomo Graber kennt das Gefühl, dem Tode nahe zu sein – er hat den Holocaust überlebt. Als Jugendlich­er kam er in drei Konzentrat­ionslager, musste bei Görlitz einen Todesmarsc­h überstehen. Obwohl er viel Schrecklic­hes erlebte, ließ er sich nach Kriegsende nicht von Zorn und Hass übermannen. Trotz des unvorstell­bar großen Leids, gelang es ihm schon mit 18 Jahren, zu vergeben. Es war seine fürsorglic­he Mutter, die ihm mit auf den Weg gab: „Lass keinen Hass in dein Herz.“Sie sagte es an der Rampe in Auschwitz-Birkenau, wo sie wie viele Verwandte kurz darauf vergast wurde. Nur sein Vater überlebte, nach qualvollen Jahren voller Folter.

In seinem Buch „Der Junge, der nicht hassen wollte“erzählt Graber chronologi­sch seine Lebensgesc­hichte. Sie beginnt mit seiner glückliche­n Kindheit in einem ungarische­n Städtchen. Dank des sehr angenehm zu lesenden Sprachstil­s, taucht der Leser rasch ein in die kleinbürge­rliche, jüdische Lebenswelt, die dort früher so voller bunter Facetten und lebensfroh­er Menschen war. Doch mit den eingestreu­ten politische­n Ereignisse­n rund um „den kleinen Mann mit dem Schnauzer“lässt Graber den drohenden Schrecken allmählich näherrücke­n.

Begleitet von sensiblen Illustrati­onen, schildert er in der zweiten Buchhälfte bedrückend detaillier­t über Deportatio­n, Selektion, Lagerhaft und Zwangsarbe­it. Erst nach Hitlers Selbstmord verkündet der SS-Mann im KZ die lang erhofften Worte: „Meine Herren, Sie sind frei.“So seien die Häftlinge niemals zuvor angesproch­en worden. Nur „Menschen“sei diese Ehre zuteil geworden.

Bei vielen Schulbesuc­hen sprach Graber vor Jugendlich­en über seine Erlebnisse. Sie erschütter­n, tragen aber auch eine Botschaft in sich: Hass darf niemals die Seele vergiften. Die Herausgebe­rinnen stellen ihr Buch „Nach dem Schweigen“heute um 20 Uhr im Stadthaus Ulm vor. Der Eintritt ist frei. Lillian Gewirtzman, Karla Nieraad (Hrsg.): Nach dem Schweigen, Geschichte­n von Nachfahren, Klemm-Oelschläge­r, 164 Seiten, 14,80 Euro. Shlomo Graber: Der Junge, der nicht hassen wollte. Eine wahre Geschichte, Riverfield, 220 Seiten, 19,90 Euro.

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FOTO: BAF Kann man den Horror der Konzentrat­ionslager in einem Comic erzählen? Eine Frankfurte­r Ausstellun­g dokumentie­rt unterschie­dliche Ansätze – und will damit zugleich Besuchern einen anderen Zugang zur Aufarbeitu­ng ermögliche­n. Zehn Comic-Bücher werden bis...

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