Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Sehenden Auges ins Unglück
Staatsanwälte ermitteln wegen Lawinendrama in den Abruzzen
- 29 Tote, 11 Überlebende: Das ist die traurige Bilanz des Dramas von Rigopiano. Eines Dramas, das vielleicht hätte verhindert werden können. Jetzt machen sich Ermittler der Polizei an die Arbeit. Jetzt, da die Bergungsarbeiten in dem Hotel am Gran-Sasso-Bergmassiv in 1200 Meter Höhe beendet worden sind.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wurden die beiden letzten Vermissten in dem am 18. Januar unter einer rund 300 Meter breiten Lawine begrabenen Winterresort gefunden. Tot, wie alle Vermissten der vergangenen beiden Tage. Damit sind die dramatischen, hoch komplizierten Bergungsarbeiten abgeschlossen. Jetzt ermitteln die Staatsanwälte, denn es gibt erhebliche Grauzonen. Grauzonen, die vor allem jene Institutionen betreffen, die für die Sicherheit innerhalb der Region und für Notfälle verantwortlich sind.
Für Entsetzen sorgte die Veröffentlichung eines Telefonats vom Unglückstag. Viermal hatte Restaurantbesitzer Quintina Marcella am 18. Januar die Polizei angerufen und um Hilfe gebeten, viermal war er dabei auf eine Mitarbeiterin der Polizei gestoßen, die den Ernst der Lage nicht erfasste.
„Das Hotel ist nicht zusammengestürzt“, antwortete sie, „diese Geschichte höre ich seit heute morgen, aber zusammengestürzt ist ein Stall in Martinelli“. Marcella hatte von dem Drama durch seinen Koch erfahren, der die Lawine nur deshalb überlebt hatte, weil er sich zum Zeitpunkt des Abgangs auf dem Parkplatz des Hotels aufgehalten hatte. Marcella informierte die Polizei darüber, dass sich die Frau und die zwei Kinder des Kochs in dem zerstörten Hotel befinden und dass schnell eingegriffen werden müsse. Doch die Polizei wiegelte ab. „Lassen Sie mir die Nummer Ihres Kochs. Sobald ich Zeit habe, rufe ich den Mann an“, lautete die Auskunft. Auf diese Weise wurde nach den Erkenntissen der Ermittlungsbehörden viel Zeit verloren. Zeit, die wichtig gewesen wäre, denn das zerstörte Hotel war aufgrund der schweren Schneefälle schwer zu erreichen.
In den vergangenen Tagen wurde außerdem bekannt, dass das Hotel Rigopiano auf dem Schutt einer Lawine von 1936 errichtet wurde. Das war seit 1991 bekannt. In jenem Jahr erstellte die Region Abruzzen eine territoriale Krisenkarte. Darauf ist deutlich zu erkennen, dass das Hotel auf einem Territorium entstand, das für Gebäude aufgrund mangelnder Statik ungeeignet ist. Doch nichts geschah. Die regionale Baubehörde reagierte nicht auf Warnungen seitens verschiedener Umweltschutzorganisationen, die seit 2007 darauf hingewiesen hatten, dass das Hotel im Fall einer Lawine unsicher sei. Auch die Erweiterungsbauten des Hotels aus den Jahren 2007 und 2008 scheinen Unregelmäßigkeiten auszuweisen, die den regionalen Baubehörden bis vor Kurzem anscheinend nicht bekannt waren. Ermittler der Polizei wollen nun herausfinden, ob Beamte der Behörde geschmiert wurden, damit sie nicht so genau hinschauen.
Zugangsstraßen zugeschneit
Ermittelt wird auch wegen der beiden zugeschneiten Zugangsstraßen zum Hotel. Diese waren seit Tagen unbefahrbar. Die Hotelverwaltung hatte seit Anfang vergangener Woche immer wieder vergeblich den Zivilschutz und kommunale Behörden darüber informiert, dass Hotelgäste nicht abreisen konnten. Eigentlich sollte am Tag vor dem Lawinenunglück eine der beiden Zufahrtsstraßen frei geräumt werden. Niemand weiß, warum ein Schneepflug nie zum Einsatz kam.
Die Hinterbliebenen der Opfer forderten am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in der Ortschaft Penna, keine 9 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, dass die Staatsanwaltschaft sämtliche Schuldigen vor Gericht bringt.