Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Pilger folgen der eigenen Sehnsucht“
Menschen aus aller Welt schnüren die Wanderschuhe – Wer sind sie und was suchen sie?
Nicht nur Schriftsteller wie Hape Kerkeling oder Paulo Coelho, sondern auch Wissenschaftler sind vom Pilgern fasziniert. Unter ihnen ist Martin Lörsch, Theologieprofessor in Trier und einer der Autoren des Buches „Abenteuer Pilgern“von der Sankt Jakobusbruderschaft. Im Gespräch mit Michael Merten (KNA) verrät Lörsch, warum der einsame Pilger ein Mythos ist. Und welche Rolle die Spiritualität auch bei Wanderern spielt, die mit Kirche nicht viel am Hut haben.
Herr Lörsch, was ist die erstaunlichste Erkenntnis, die Sie durch die Arbeit an diesem Buchprojekt gewonnen haben?
Für mich persönlich ist es vor allem die Vielfalt der Motive, warum jemand den Jakobsweg geht. In dem Buch sind diese unterschiedlichen Typen dargestellt. Die Forschungsergebnisse enthalten wichtige Hinweise für die Verantwortlichen für Pilgerseelsorge entlang des Jakobswegs. Diese können ein besseres Gespür für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen auf dem Weg entwickeln und ihre Angebote zielgenauer anbieten.
Den einen typischen Pilger gibt es nicht?
Den gibt es nicht. Hinzu kommt, dass das Pilgern auf dem Jakobsweg immer internationaler wird. Im Jahr 2016 sind Menschen aus 136 Ländern in Santiago de Compostela angekommen, sogar Fußpilger aus der Mongolei oder aus Haiti.
Welche Typen an Pilgern haben Sie denn ausgemacht?
An erster Stelle möchte ich den spirituellen Typus nennen, der vor allem der eigenen Sehnsucht folgt. Er steht stellvertretend für die modernen Sinnsucher, die aus einer spirituellen Motivation aufbrechen, aber nicht mehr unbedingt kirchlich gebunden sind, vielleicht sogar nie mit Kirche in Kontakt gekommen sind.
Und die zweite Sorte Pilger?
Der zweite Typus ist der kirchlich gebundene Pilger. Für ihn spielen Motive wie Umkehr, Buße und Neubeginn eine große Rolle. Ich erinnere mich an einen Pilger, dem klar geworden war: Ich habe eine falsche Berufsentscheidung getroffen. Mit dem Aufbruch will ich einen Cut machen, und nach der Rückkehr beginne ich einen neuen Lebensabschnitt. Dieser Pilger erzählte, dass er vor dem Start auch zur Beichte gegangen ist. Für Menschen wie ihn ist der Weg wie ein Reinigungsritual mit einem unterscheidbaren Vorher und einem Nachher.
Welche Gruppen haben Sie noch identifiziert?
Der dritte Typus ist jener Pilger, der auf dem Camino die Begegnung mit Land und Leuten, mit Natur und Kultur genießt. Er geht den Weg zu Fuß oder pilgert mit dem Rad, nutzt aber auch die Annehmlichkeiten wie den Gepäcktransport. Er übernachtet heute in der normalen Herberge und teilt sich das Zimmer mit zehn anderen Personen und gönnt sich für die nächste Nacht den Luxus eines gepflegten Hotels, nachdem er mit Freunden gut zu Abend gegessen und sich eine Flasche Rotwein gegönnt hat. Dann gibt es viertens den Spaßpilger. Dieser ist vor allem bei jungen Leuten nach dem Abitur zu finden. Und schließlich die fünfte Gruppe: der „Sportpilger“, das sind vor allem Männer. Ihnen geht es darum, die eigene Belastungsgrenze zu erkunden. Manche von ihnen laufen bis zu 50 Kilometer und mehr am Tag. Ich habe den Eindruck, dass sie vor allem über die Grenz- und Schmerzerfahrungen mit dem eigenen Körper in Kontakt treten.
Sind denn außer dem religiösen Pilger auch die anderen Gruppen offen für kirchliche Angebote?
Ja, unbedingt! Aber manche wollen das diskret behandelt wissen. Sie wollen dabei nicht beobachtet werden. Manche von ihnen kehren in eine Kirche ein, verweilen dort oder stellen eine Kerze auf und lassen diese für sich beten. In den Begegnungen auf dem Pilgerweg habe ich nur wenige Menschen kennengelernt, bei denen sich innerlich nichts verändert hat. Die Mehrzahl ist auf dem Weg mit ihren tiefen Schichten der Sehnsucht, der Spiritualität in Kontakt gekommen. Daher bin ich überzeugt, dass auch kirchenferne Pilger von der Faszination der Liturgie und der kirchlichen Bräuche angerührt werden. Die Begegnung mit dem Heiligen im Kirchenraum, das Erleben der Messe mit der Urgeste des Brotbrechens, die Faszination des Lichts, der Geruch des Weihrauchs können sich als Gelegenheit der Gotteserfahrung erweisen.
In dem Buch wird auch die Frage des subjektiven Wohlempfindens nach einer Pilgerschaft gestellt.
Das Interessante ist, dass dieses Wohlbefinden mit dem stolzen Gefühl, das Ziel erreicht zu haben, von den Pilgern als ein Wert wahrgenommen wird, der in einer Langzeitstudie auch nach Jahren noch nachgewiesen werden kann. Viele Pilger sind bis zu ihrem Lebensende stolz, dass sie ihren inneren Schweinehund besiegt, ihre Schmerzen und Pein überwunden haben. Das ist etwas, das bleibt – wie eine innere Goldmedaille.
Das Buch „Abenteuer Pilgern“ist in Zusammenarbeit von Pastoraltheologen, Psychologen und Soziologen entstanden. Es ist im Echter-Verlag mit der ISBN 978-3-429-04323-0 erschienen und kostet 29 Euro.