Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Festgefroren in Istanbul
Fünf Laupheimer erleben bei Zwischenstopp fünf Chaostage am Flughafen
- Zehntausende Flugreisende saßen in den Tagen ab Dreikönig wegen heftiger Schneefälle auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul fest. Den internationalen Medien war das kaum mehr als ein paar Zeilchen wert – sehr zum Erstaunen einer Reisegruppe aus Laupheim, die dort fünf Tage lang die Hölle auf Erden erlebte.
Es hätte eigentlich nur eine unbedeutende Zwischenstation sein sollen: Cornelia Weber (48), Christina Sauter (51), Daniel Sauter (32), Petra Eckert (32) und Leonie Leder (32) hatten von Weihnachten an einen wunderbaren Urlaub in Ruanda verbracht, als sie am frühen Morgen des 6. Januar in der Hauptstadt Kigali in den Flieger von Turkish Airlines zur Rückreise über Istanbul stiegen. Wegen eines technischen Defekts mit fünfstündiger Verspätung – was sich als fatal erweisen sollte.
Die Verspätung führte nämlich dazu, dass sie in Istanbul ihren Anschlussflug nach Stuttgart verpassten. Um diese Zeit begann es in der türkischen Metropole leicht zu schneien. „Wir sind gleich zum Turkish-Airlines-Schalter, um einen neuen Flug zu buchen. Wir haben für den Abend einen nach Zürich bekommen, und auch das Gepäck wurde direkt umgebucht“, berichtet Petra Eckert. „Als wir dann in einem Restaurant gewartet und beim Blick aus dem Fenster den Schneesturm gesehen haben, ahnten wir schon: Das wird wohl nix heut.“An der Anzeigetafel tat sich aber lange nichts. Erste Verwirrung herrschte am Gate, als dort plötzlich auch Fluggäste nach Rom zusteigen wollten. „Erst kurz vor dem geplanten Abflug war klar: Der Flug geht weder nach Rom noch nach Zürich, sondern er wurde gestrichen.“ Petra Eckert
Um mögliche Informationen, wie es nun weitergehen könnte, nicht zu verpassen, warteten die fünf Laupheimer im Sicherheitsbereich. Doch Infos folgten nicht, dafür immer mehr ratlose bis verzweifelte Fluggäste. Die Nacht verbrachte das Quintett schließlich auf den Sitzen im Untergeschoss des Gatebereichs. „Die Luft wurde mit der Zeit zum Schneiden dick. Es gab keine Frischluft. Am Waschbecken im Klo haben wir uns notdürftig gewaschen. Besoffene, die ihren Frust runtergespült hatten, grölten rum. Und als es endlich ruhiger wurde, kam eine Frau mit ihrem Baby“, erzählt Petra Eckert.
Elf Kilometer unterwegs
Tags darauf nahm das Buchungschaos erst richtig seinen Lauf, denn die Hoffnung auf eine bessere Informationspolitik zerschlug sich bald. „Flughafenmitarbeiter haben Telefonnummern in die Höhe gehalten. Da kam man gar nicht durch“, erzählt Christina Sauter. „Wir wurden von einem Turkish-Airlines-Schalter zum nächsten geschickt“, fügt Petra Eckert an. „Leonie hatte zufällig einen Schrittzähler dabei: Am ersten Tag sind wir elf Kilometer gelaufen.“Genutzt hat es freilich nichts. „Wir haben gemerkt: Geholfen wird uns nicht. Und so haben alle auf dem Handy, obwohl es kaum freies WLAN gab und es dadurch vermutlich ziemlich teuer wurde, nach Ersatzflügen geschaut.“
Petra Eckerts Vater schließlich gelang es, von zu Hause aus über einen türkischen Freund Flüge für den Abend nach Stuttgart zu buchen. Doch die Ernüchterung folgte schon am Mittag. Während einer Bekannten, die sie in Kigali kennengelernt hatten, am Schalter beim Vorlegen der Buchungsmail mitgeteilt wurde, dass der Flug längst gestrichen sei, ließ man die Laupheimer im Glauben, der Flieger würde starten. Eine Fehlinformation. „Wir wurden angelogen – nur um keine Unruhe zu stiften“, sagt Petra Eckert.
Weil eine weitere Nacht am Flughafen für die Reisegruppe nicht infrage kam, starteten sie den Versuch, über den Hotelschalter eine Unterkunft zu buchen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Warteschlange reichte durch die gesamte Halle, und ein Hotel bekam ohnehin nur, wer eine gültige Bordkarte vorzulegen hatte. „Also buchten wir auf eigene Faust die billigste Absteige – für 85 Euro das Doppelzimmer“, erzählt Christina Sauter.
Flug für Montag – im Juni
Nachdem ein weiterer gebuchter Ersatzflug am Sonntagmorgen, 8. Januar, gestrichen wurde, ging das Glücksspiel weiter. Eine gestresste Mitarbeiterin von Turkish Airlines buchte dem Quintett einen Flug nach Stuttgart für den Montag. Versehentlich im Juni. Inklusive Stornierung waren zwei weitere Stunden nutzlos verstrichen. Schließlich wurde es Cornelia Weber zu bunt, und sie buchte bei Air Serbia einen horrend teuren Rückflug – für den Montagabend. Eineinhalb weitere Tage in Istanbul waren „gesichert“.
Ausgerechnet Istanbul, der derzeit vielleicht gefährlichsten Stadt Europas. „Natürlich war das ein komisches Gefühl“, räumt Christina Sauter ein. „Wir mussten auch mal durch die Halle, in der es vor einem halben Jahr den schweren Anschlag gegeben hatte.“Einheimische, die ebenfalls von den Flugausfällen betroffen waren, hätten den Flughafen möglichst schnell verlassen. „Die wollten nichts als raus.“Für zigtausend andere Menschen war das nicht möglich. „Es haben sich zum Teil dramatische Szenen abgespielt“, erzählt Sauter. Familien waren verzweifelt, Kinder heulten oder schliefen in der Not auf dem Kofferwagen. „Es gab viel zu wenig Decken und nur vereinzelt wurden Getränke und alte, lätschige Brötchen verteilt“, sagt Christina Sauter. Von organisierten Helfern des Roten Kreuzes oder anderer Organisatoren sei nichts zu sehen gewesen.
45 000 Koffer im Wartestand
„Ein Mann wollte sein Gepäck haben, weil sich darin lebenswichtige Arzneimittel befanden“, erzählt Christina Sauter. „Er hat förmlich darum gefleht und gesagt: ,Ich sterbe‘. Aber dem Mann am Schalter war das egal.“Auch sie selbst hätten versucht, an ihr Gepäck zu kommen – keine Chance. „Es war von 45 000 Koffern die Rede, die irgendwo auf den Weiterflug warteten.“Die Zahl der betroffenen Reisenden lässt sich nur schätzen. Aber allein am Sonntag, recherchierte Christina Sauter hinterher, wurden 250 Flüge gestrichen. Vereiste Start- und Landebahnen seien nur einer der Gründe für das Chaos gewesen, die Rede war auch von mangelnden Maschinen zum Enteisen der Flugzeuge.
Während sich das Wetter in Istanbul nur langsam besserte, verschlechterte sich die Stimmung bei den Reisenden aus Laupheim zusehends, auch wenn man inzwischen frische Klamotten, Duschbad, Deo und auch eine bessere Unterkunft organisiert hatte. „Einen Tag lang habe ich nur geheult, ich war nahe am Nervenzusammenbruch“, sagt Christina Sauter.
Am Ende brauchte es viel Glück und gute Beziehungen, um am Mittwoch, 11. Januar, wohlbehalten die Heimat zu erreichen. „Nachdem wir am Montag erfahren haben, dass wir uns am Dienstagabend einfach zum Check-in für einen Flug nach Stuttgart begeben sollten, haben wir den Air-Serbia-Flug wieder storniert“, berichtet Petra Eckert. Als sie am Dienstag auf die Boarding-Karten blickten, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen: Statt der Sitznummer stand dort „SBY“. Was das bedeutet, erfuhren sie im Internet: Stand-by. Ein Mitflug war also nur möglich, sofern es freie Plätze gibt. Angesichts der Situation am Flughafen nahezu aussichtslos. „Die Frau am Schalter hatte uns gesagt: Alles ist okay. Sie hatte uns also auch angelogen“, sagt Petra Eckert.
„Als wir beim Blick aus dem Fenster den Schneesturm gesehen haben, ahnten wir schon: Das wird wohl nix.“
Bange Minuten am Gate
Christina Sauter rief daraufhin einen Bekannten mit Regierungskontakten an. Er versprach, sich um das Problem zu kümmern – und meldete sich schließlich zurück: „Macht euch keine Sorgen, ihr bekommt Plätze.“Es folgten bange Stunden und am Ende Minuten, denn nicht wenige begehrten am Gate Einlass mit einem „SBY“-Ticket. „Plötzlich rief eine Frau: Cornelia Weber! Sie drückte ihr fünf Bordkarten mit handschriftlich bezeichneten Sitzplatznummern in die Hand. Connie fiel der Frau um den Hals vor Freude“, erzählt Petra Eckert. Am frühen Mittwochmorgen landeten die fünf Laupheimer überglücklich in Stuttgart – nur auf das Gepäck, das nach Zürich geflogen wurde, warten sie bis heute. „Wir haben dort angerufen. Es hieß: Bei 30 000 Koffern, die dort aus Istanbul angekommen sind, brauche es Geduld“, erzählt Christina Sauter.
Für sie bleibt nach diesem Erlebnis vor allem ein Gefühl zurück: Enttäuschung. „Ich hätte nicht gedacht, dass man Menschen so mies behandeln kann“, sagt die 51-Jährige. „Keine Infos, keine Durchsagen, Lügen, unfreundliches Personal – so was habe ich noch nicht erlebt.“Christina Sauter ist sich nicht sicher, ob das neben dem Chaos nicht auch auf das zuletzt angespannte Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland zurückzuführen ist. „Wir haben in dem Laden, in dem wir Klamotten und Hygieneartikel gekauft haben, und auch im Hotel schon eine gewisse Abneigung gespürt. Ein Taxifahrer hat uns gesagt: Euer Geld möchte ich nicht.“
Der erste freundliche Mensch in diesen Tagen sei ihr auf der Flughafentoilette begegnet, erzählt Christina Sauter: „Eine Putzfrau hat mich tröstend am Arm gestreichelt.“
„Es haben sich zum Teil dramatische Szenen abgespielt.“Christina Sauter über das Chaos am Flughafen