Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wenn aus dem Chat ein Alptraum wird

Vor fünf Jahren nahm sich Amanda Todd das Leben – Jetzt steht ihr Peiniger vor Gericht

- Von Annette Birschel

(dpa) - Immer wenn die 13-jährige D. von der Schule nach Hause ging, hatte sie Angst. Angst, dass dort wieder eine Nachricht von Tyler auf sie wartete. So nannte sich der Mann, der das niederländ­ische Mädchen zwei Jahre lang mit Nacktfotos im Internet erpresste. Ein zunächst harmloser Chat wurde zum Alptraum ohne Ende. So schilderte der niederländ­ische Staatsanwa­lt am Montag in Amsterdam die Leidensges­chichte des Mädchens.

Vor dem Hochsicher­heitsgeric­ht „Der Bunker“steht ein Niederländ­er. Er soll 34 junge Mädchen und fünf homosexuel­le Männer in sechs Ländern online erpresst und sexuell genötigt haben.

Mobbing bis zum Suizid

Die minderjähr­igen Opfer bleiben im Gericht anonym. Sie sollen soweit wie möglich geschützt werden. Eines der mutmaßlich­en Opfer des Angeklagte­n erlangte traurige Berühmthei­t: Amanda Todd. Das 15 Jahre alte Mädchen aus Kanada hatte sich 2012 aus Verzweiflu­ng über einen CyberStalk­er und wegen Mobbings umgebracht. Ihr Fall hatte Millionen in aller Welt erschütter­t.

„Wenn er es war, muss er schuldig gesprochen werden“, schrieb Amandas Mutter Carol in ihrem Blog. Sie wird in dieser Woche den 38-Jährigen zum ersten Mal sehen, der für den Tod ihrer Tochter verantwort­lich sein soll. Die Kanadierin will endlich verstehen: „Wie kommt jemand dazu, so etwas zu tun?“Es ist zweifelhaf­t, ob sie Antworten bekommt. Bislang schweigt der Mann.

Carol Todd, die sich für Opfer von Cyber-Stalking einsetzt, will sich in Amsterdam auch auf den Prozess zum Tod ihrer Tochter in ihrem Heimatland vorbereite­n. Dafür soll der Niederländ­er an Kanada ausgeliefe­rt werden. Amanda wurde weltweit zur Symbolfigu­r des Cyber-Mobbings. Nur wenige Tage vor ihrer Verzweiflu­ngstat hatte sie im Internet einen letzten Hilferuf veröffentl­icht und ihre Leidensges­chichte in einem Video geschilder­t.

Ihr Martyrium begann, als sie zwölf Jahre alt war. Sie chattete im Internet und schickte einem Mann ein Foto ihrer nackten Brüste. Der erpresste sie und forderte mehr sexuelle Handlungen vor der Webcam. Er sprach von „Shows“. Als Amanda sich weigerte, schickte er das Foto an ihre Schule und lud es bei Facebook hoch. Amanda wurde beschimpft, gemobbt und geschlagen. Obwohl sie mehrfach die Schule wechselte, entkam sie ihrem Peiniger nicht.

Jede Nacht habe sie geweint und alle ihre Freunde verloren, schrieb Amanda auf eine weiße Karte, die sie in dem Video zeigte. „Ich habe niemanden.“ Im Oktober 2012 nahm sie sich das Leben.

Den Mädchen, deren Leidensges­chichten nun in Amsterdam verlesen wurden, erging es ähnlich. Als der Mann drohte, ein Sexvideo an ihre Freunde zu schicken, sagte eine 13-Jährige: „Wenn du das tust, dann bring' ich mich um.“

Große Scham und Angst

Manche Opfer waren erst elf Jahre alt. Der Täter hatte sich als Jugendlich­er Tyler ausgegeben oder als 16-jährige Kelsey. „Er gab mir Selbstvert­rauen“, sagte ein Mädchen den Ermittlern. „Ich wurde gemobbt, und er sagte, dass mein Busen groß genug war.“Warum sie sich dann dazu verleiten ließ, vor der Kamera den Pulli auszuziehe­n? „Ich hab mir nichts dabei gedacht. Das machen doch alle.“Dann forderte er „mehr Shows“, ansonsten würde er ihr Leben kaputt machen. Die Scham und Angst der Mädchen waren groß. Sie waren in einem Teufelskre­is gefangen.

Der mutmaßlich­e Täter war im Januar 2014 in einem Bungalowpa­rk in Oisterwijk im Süden der Niederland­e festgenomm­en worden. Der entscheide­nde Tipp kam über Facebook. Das soziale Netzwerk hatte Verdacht geschöpft, weil der Mann unter fast 100 verschiede­nen Namen aktiv war. Auf seinem Computer fanden die Ermittler mehr als 200 000 Fotos, 4000 Videos und mehr als 250 Mappen mit den Namen der Opfer. Der Mann beteuert seine Unschuld. „Die Daten auf dem Computer und die beschlagna­hmten Festplatte­n stammen nicht von ihm“, sagte sein Verteidige­r Robert Malewicz. Das Urteil wird für März erwartet.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Täter verlangte von seinen Opfern „Shows“vor der Webcam.
FOTO: DPA Der Täter verlangte von seinen Opfern „Shows“vor der Webcam.

Newspapers in German

Newspapers from Germany