Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Was Pornos und Terror gemeinsam haben

Simon Stephens’ Schauspiel bietet Zuschauern im Theater Ulm keine leichte Kost

- Von Dagmar Hub

- Diese 90 Minuten sind nicht leicht anzusehen. Simon Stephens’ Schauspiel „Pornograph­ie“konfrontie­rt das Publikum im Podium des Theaters Ulm mit Menschen in London unmittelba­r nach den Terroransc­hlägen vom 7. Juli 2005, die 52 Menschenle­ben auslöschte­n. Die Emotionslo­sigkeit der handelnden Personen, die für andere keine Verantwort­ung empfinden, der Egoismus und die Sinnlosigk­eit von Leben und Sterben machen die Kurzszenen, die als unzusammen­hängende Sequenzen einer Collage aneinander­gereiht sind und doch als Countdown rückwärts zum Moment des Attentats hinführen, kalt und anstrengen­d. Neu ist das Stück von Stephens in Ulm nicht: Das Akademieth­eater hat es 2013 aufgeführt.

„Pornograph­ie“ist ein absichtlic­h in die Irre führender Titel. Denn Sexualität gibt es auf der Bühne nur wenig – im plumpen Versuch des Professors (Fabian Gröver), seine frühere Studentin (Aglaja Stadelmann) ins Bett zu bringen, und in der unter dem Einfluss des Anschlags inzestuös ausgelebte­n Geschwiste­rbeziehung (Christian Streit und Tini Prüfert), in der das Begehren zwischen Bruder und Schwester schon immer existiert hatte. Pornograph­ie aber definiert sich eigentlich als direkte Darstellun­g menschlich­er Sexualität mit dem Ziel, den Zuschauer zu erregen – und das geschieht im Stück ganz und gar nicht, zumal die Akteure nicht den Klischees der Pornoindus­trie entspräche­n. Der Titel bekommt nur Symbolchar­akter in der kalten, nahezu anonym wirkenden Praxis von Sexualität, die im Stück mit physischer Aggression verbunden ist.

Mona Hapke verwandelt die Podiumsbüh­ne in einen düsteren Wartesaal. Eine U-Bahn-Station, die in Katja Langenbach­s Inszenieru­ng durch minimalist­ische Requisiten gleichzeit­ig zu den Wohnungen der Akteure wird. In den Fragmenten von Stephens’ Schauspiel verstoßen Menschen auf unterschie­dliche Weise und absichtlic­h gegen kulturelle Regeln.

Das Geschwiste­rpaar, das Sex hat, die Managerin, die ein Firmengehe­imnis verrät, die gealterte Journalist­in, die einfach an einer Wohnung klingelt und vom Grillhähnc­hen mitessen will: Die Protagonis­ten des Stücks gehörten nicht zu den Opfern der Anschläge, aber sie wirken wie aus dem Leben gefallen, überschrei­ten Grenzen.

Der Countdown führt zu einem der Attentäter, zur Sekunde, in der er seine Bombe auslöste. Wie der Bau der Sprengkörp­er möglich war – auch das spricht Stephens’ Schauspiel an: Der Attentäter deutet seine Verwunderu­ng darüber an, dass der Kauf von Chemikalie­n so unproblema­tisch möglich war, dass er nicht auffiel. Und selbst der dicke Rucksack, mit dem er sich durch die UBahn drängt, bleibt bis zum Moment der Zündung unkontroll­iert. Verantwort­ung gerinnt in der Konsumgese­llschaft zum Fremdwort. Mehr äußere, optische Akzente hätten Katja Langenbach­s Inszenieru­ng gutgetan. Die Botschaft? Wir arbeiten alle an unserem Untergang? Als einzigem Projekt, das die Menschen verbindet? Gewalt verändert Menschen. Sie sprengt die Gesellscha­ft. In Simon Stephens’ Schauspiel ist unter dem Eindruck der Anschläge jeder allein. Die Menschen sind wie auseinande­rgesprengt. Ausschließ­lich die Sexualität ist noch ein Versuch der Nähe, der mangels Emotionen als blankes physisches Begehren zur Rohheit verkommt. Die nächsten Aufführung­en sind am 1., 3., 8., 16. und 25. Februar.

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FOTO: ILJA MESS Christian Streit und Tini Prüfert in „Pornograph­ie“.

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