Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Pfullendorf bangt um seinen Ruf
Nach den Exzessen in der Staufer-Kaserne machen Bürger und Bürgermeister sich große Sorgen – um ihr Ansehen
- Nagold, Hammelburg, Coesfeld, Mittenwald sind allesamt hübsche deutsche Kleinstädte. In ihnen gibt es selbstbewusste Bürger, florierende Betriebe und lange Traditionen. Doch das kollektive Gedächtnis verbindet mit diesen Städtchen vor allem: Bundeswehr-Skandale. Den „Schleifer von Nagold“, die Hitlergruß-Videos von Hammelburg, die „Fesselverhöre“von Coesfeld und der „Fuxtest“mit roher Schweineleber und reichlich Alkohol in Mittenwald. Seit der vergangenen Woche gehört auch Pfullendorf in diese Reihe: Aus der dortigen Staufer-Kaserne meldet die Bundeswehr sexuell-sadistische Praktiken und brutale Aufnahmerituale. Dass Stabsoffiziere und Ärzte beteiligt waren, macht diesen Skandal zusätzlich besonders.
„Es sind die Medien, die den Ruf unserer Stadt derzeit beschädigen“, regt sich der Pfullendorfer Bürgermeister Thomas Kugler auf, wenn jetzt Nagold, Hammelburg, Coesfeld, Mittenwald und Pfullendorf in einem Atemzug genannt werden. Kugler, ein temperamentvoller VollblutSchultes wie aus dem Lehrbuch für engagierte Bürgermeister, legt darum besonders Wert auf die Unterscheidung: „In der Kaserne, auf dem Bundeswehr-Gelände, im Ausbildungszentrum ,Spezielle Operationen,’ sollen sich die Vorgänge abgespielt haben“, die Stadt Pfullendorf mit ihren Bürgern habe damit wenig bis gar nichts zu tun. In seiner Stadt sei der Skandal fast kein Thema: „Das Stadtgespräch wird dadurch jedenfalls nicht bestimmt.“Was in der Kaserne passiere, sei Soldaten-Angelegenheit. Die Medien mögen dies respektieren und keine voreiligen Schlüsse ziehen, vor allem aber die Bürger in Ruhe lassen. Die Aufarbeitung sei jetzt Sache der Staatsanwaltschaft und der Bundeswehr. Allerdings nehmen die meisten Medien diese eingeforderte Unterscheidung schon vor.
Tatsächlich erleben die Pfullendorfer seit dem vergangenen Freitag einen Medienansturm und eine Aufregung, wie sie der Ort lange nicht erlebt hat. Fernsehteams filmen jedes Auto, das die Kaserne verlässt, in der schmucken Fußgängerzone stürzen sich Journalisten auf Passanten, um sie zu fragen, was sie zu dem Skandal zu sagen haben.
Letztmalig interessierten sich überregionale Medien im Jahr 1981, bei einer Demonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss, für die Soldaten und die 13 000-EinwohnerStadt. Da im nahen Mottschießer Wald in einem Munitionsdepot taktische Atomsprengköpfe der US-Army gelagert waren, zogen vier Hundertschaften der Polizei und schussbereite Wachmannschaften auf.
Es blieb alles friedlich damals. In Erinnerung blieb vor allem, dass der damalige Bürgermeister Helmut Ruck zweimal auf das grundgesetzlich verankerte Demonstrationsrecht aufmerksam gemacht werden musste.
In diesen Tagen, Anfang Februar 2017, nehmen die Pfullendorfer vor allem ein anderes Recht in Anspruch: das Recht zu schweigen. Sie sagen nichts, vor allem nicht gegenüber Medienvertretern. Und wenn Journalisten Antworten bekommen, dann sind es Vorwürfe: „Nicht so schnell schreiben“, „Erst mal die Vorwürfe aufklären“, „Nicht voreilig verurteilen“, „Bitte keine Pauschalurteile“, „Nichts aufbauschen.“Das Wort „Lügenpresse“fällt nicht.
Viele Pfullendorfer scheinen die Abfolge der Ereignisse durcheinanderzubringen: Vor zehn Tagen berichtete der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD) an den Bundestag und stellte seinen Jahresbericht vor. Darin schrieb er: „Eine Ausbildung, die sich Methoden bedient, mit denen in die Intimsphäre eingegriffen wird, und die das Schamgefühl von Ausbildern und Auszubildenden verletzt, ist nicht zu tolerieren. Dies ist auch nicht in Spezialausbildungen gerechtfertigt.“Dann hatte die Bundeswehr selbst am vergangenen Freitag die Vorgänge öffentlich gemacht und mitgeteilt, dass es in der Pfullendorfer Ausbildungskaserne zu einer „Häufung ernst zu nehmender Vorfälle“gekommen sei. Es habe Verstöße gegen das „Gebot zur Achtung der Würde des Menschen, der sexuellen Selbstbestimmung und des Schamgefühls“gegeben. Es gebe zudem Hinweise auf Mobbing. Außerdem seien im Zuge sogenannter „Aufnahmerituale“Soldaten misshandelt worden. Erst danach berichtet „Spiegel Online“, im Anschluss auch die „Schwäbische Zeitung“.
Doch in Pfullendorf sind es jetzt plötzlich die Medien, die die Stadt angeblich in den Schmutz ziehen. Dabei betonen Zeitungen, Sender und Blogs, der Tatort sei die Kaserne, nicht die Stadt. Der Schweizer Physiker und Philosoph Eduard Kaeser, der sich mit den Gefahren im postfaktischen Zeitalter auseinandersetzt und vor der „Demokratie der Nicht-wissen-wollen-Gesellschaft“warnt, wird so bestätigt. Wer die Fakten negiere, erliege der Informationsflut in der digitalen Welt, die zentrale Standards wie Objektivität und Wahrheit vernachlässige. Umso wichtiger ist der Blick auf die bekannten und bestätigten Tatsachen, für die ja teilweise Beweismittel wie Videoaufnahmen vorliegen.
Dass die Menschen in Pfullendorf angefressen sind, ist freilich verständlich. Ein Beispiel: Die Pfullendorfer Stegstreckerzunft war am vergangenen Samstag beim Narrentreffen in Markdorf dabei. Sie waren fröhlich und gut gelaunt, die Pfullendorfer Narren. Aber irgendwann auch ein bisschen genervt, als sie im proppevollen Festzelt und in den Gaststätten von Besuchern der Partynacht auf den Bundeswehr-Skandal angesprochen wurden. Irgendwann verloren die Pfullendorfer die Lust, sich zu den Vorwürfen zu äußern. „Keine Ahnung, was da abläuft“, sagte ein Narr, als er vor dem Zelt stand und von einem als Soldaten verkleideten Mann angesprochen wurde. Mehr wollte er nicht mehr sagen, sondern sich lieber eine Zigarette anstecken und die Kommunikation beenden.
Denn auch dies gehört zur Wahrheit: Für die Pfullendorfer Bevölkerung ist die Staufer-Kaserne in der Nähe des Fußballstadions nah und doch weit weg. Anders als die Firma Alno, Hersteller hochwertiger Einbauküchen: Alno hatte eine Woche zuvor angekündigt, 350 Stellen zu streichen – viele davon am Standort in Pfullendorf. Das geht den Pfullendorfern
Pfullendorfs Bürgermeister Thomas Kugler
nahe, weil sie die Mitarbeiter in der Verwaltung kennen, weil sie befreundet sind. Oder Mitglied im gleichen Verein.
Die Bundeswehr-Kaserne liegt zwar nur einige Hundert Meter vom Ortskern weg. Die Menschen, die dort arbeiten, sind aber weit weg. Die Aussetzung der Wehrpflicht, der Umbau der Kaserne zu einem Ausbildungszentrum, der Rückzug aus der Fläche und die Neuausrichtung der Bundeswehr zu einer Berufsund Einsatzarmee hat auch in Pfullendorf das Verhältnis zwischen den Bürgern und den Soldaten neu definiert.
In der Garnison in Pfullendorf werden in Lehrgängen gleichzeitig 300, manchmal auch 600 Soldaten aus neun europäischen Ländern ausgebildet. Die Angehörigen von Eliteeinheiten, darunter Fallschirmjäger, Gebirgsjäger und Marineflieger, kommen nach Pfullendorf, trainieren intensiv, sind nach ein paar Wochen oder Monaten wieder weg. Ihre soziale Bindung an den Standort: nicht existent. Ein Offizier sagt: „Solche Einzelkämpfer quatschen sicher nicht abends in der Kneipe, dazu sind die Lehrgänge zu anstrengend und die Leute zu verschwiegen.“
600 Soldaten der Bundeswehr sind als Stammpersonal längere Zeit in der Kaserne stationiert. Aber anders als früher sind Versetzungen im Zwei- oder Drei-Jahres-Rhythmus die Regel. Die Bundeswehr ist eine Pendlerarmee, sodass sich die Soldaten nicht unter der Woche am Standort, sondern am Wochenende in ihrer Heimat sozialisieren. Wenn überhaupt. Entsprechend bekommen die Pfullendorfer auch von diesen Soldaten nicht viel mit. Ihre Wege kreuzen sich im Supermarkt, auf der Straße, beim Essen im Restaurant. Mehr nicht. Die Zahl der Soldaten, die in Pfullendorf mit Familie wohnt, ist übersichtlich. Und die Militärs dürfen über ihre Aufgaben nichts sagen. Nicht einmal ihren Freunden, die sie in Pfullendorf kennengelernt haben.
Ein Pfullendorfer, der ebenfalls seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat unangenehme Erinnerungen an eine Begegnung mit Soldaten: „Im Supermarkt haben sich drei Soldaten meine Frau angeschaut und dann gemeint, sie sei genau richtig für einen Abend im Swingerclub.“Beschwerden verliefen im Sande: „Und ein Vorgesetzter meinte sogar, meine Frau könne stolz darauf sein, die Äußerungen solle sie als Kompliment werten.“Nachvollziehen lässt sich der Vorfall aus dem Jahr 2015 nicht mehr, auch bei den Feldjägern ist kein Eintrag mehr zu finden.
Dann gab es 2013 den Fall eines ehemaligen Soldaten aus Pfullendorf, der als Vergewaltiger vor Gericht stand: Der Mann musste in die Psychiatrie. Bürgermeister Kugler erinnert sich schon gar nicht mehr an weitere Auseinandersetzungen, an denen Soldaten beteiligt waren: „Früher, als es die Wehrpflicht noch gab, da gab es ab und an Raufereien.“
Nagold, Hammelburg, Coesfeld, Mittenwald, jetzt Pfullendorf: Die Stadt wird sich daran gewöhnen müssen, in einem Atemzug mit Garnisonsstädten genannt zu werden, in denen Bundeswehrskandale stattfanden. Pfullendorf, das lange von der Bundeswehr profitiert hat, wird umdenken müssen. „Unerwünschtes, das zudem ungewohnt ist, hat in Pfullendorf nicht stattzufinden“, charakterisierte die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“die Denke nach der Demonstration 1981. Das erinnert irgendwie an heute.
„Es sind die Medien, die den Ruf unserer Stadt derzeit beschädigen.“