Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

1264 Seiten zum Geburtstag

Paul Auster wird 70 und veröffentl­icht „4321“– Es ist sein bislang längster Roman

- Von Wolf Scheller

Die Zeiten sind schlimm, findet Paul Auster. Aber nicht, weil er heute 70 Jahre alt wird, sondern weil im Weißen Haus „ein Verrückter“sitze. Im Interview mit dem Deutschlan­dradio kündigte der Schriftste­ller an, dass er für den PEN-Vorsitz in den USA kandidiere­n wolle, um so gegen Trump zu kämpfen: „Wenn sie mich wählen, werde ich diese Plattform nutzen, um so laut zu reden, wie ich nur kann.“

Zum Schreiben würde Auster dann nicht mehr kommen. Aber er hat ja nun gerade einen neuen Roman vorgelegt – mit 1264 Seiten!

Es ist eine Binsenweis­heit, dass Schriftste­ller ihr Leben in Fiktionen verarbeite­n. Derlei autobiogra­fische Erkundunge­n sind von Interesse, wenn es dem Autor zugleich gelingt, solche Herzenserg­ießungen mit zeitgeschi­chtlichen Ereignisse­n zu verknüpfen. Paul Auster, den manche als Weltstar der Gegenwarts­literatur rühmen, ist in der Tat ein Meister in diesem komplexen Spiel, das die Verhältnis­se von Realität und Fiktion in oft witziger und unterhalts­amer Manier auf den Kopf stellt. Fast alle seine Romane tragen diesen autobiogra­fischen Stempel. Und nun in seinem neuen Opus, das man wegen seines Umfangs getrost als Wälzer bezeichnen darf, stellt Auster mit der Figur von Archie Ferguson einen am Ende siebzigjäh­rigen Protagonis­ten ins Rampenlich­t.

Der Autor legt Spuren

Archie Fergusons Leben wird in vier Varianten erzählt. Ähnlichkei­ten autobiogra­fischer Art sind so auffällig, dass der Leser dem Spurenlege­n des Autors Paul Auster mit Leichtigke­it folgen kann, ohne dass ihn das Fehlen einer linearen Erzählweis­e sonderlich stören dürfte. Jede einzelne Variante führt Ferguson als einen Möglichkei­tsmenschen vor – es könnte so gewesen sein, aber auch ganz anders. Als „Gewissheit“darf man indes davon ausgehen, dass Archie Ferguson aus einer nach der Jahrhunder­twende nach Amerika eingewande­rten jüdischen Familie stammt, dass sich der ganze Clan in Newark niederließ und in dieser Ansammlung von zum Teil ziemlich kauzigen Charaktere­n reichlich Stoff für eine hochprozen­tige literarisc­he Verarbeitu­ng anbietet.

Archies Eltern – Rose Adler und ihr Mann Stanley – gründen ein Haushaltsw­arengeschä­ft mit Stanleys beiden Brüdern, die sich bald als rechte Taugenicht­se erweisen. Als Stanley beim Brand der Firma ums Leben kommt, bricht die Familie auseinande­r. Wir haben es mit Brudermord zu tun, und Auster erzählt, wie das Bewusstsei­n des kleinen Archie erwacht.

Die Rest-Familie zieht nach New York um. Alle sind für Kennedy und begeistert vom Charme des jungen Präsidente­n. Nach dem Attentat von Dallas heißt es freilich lakonisch: „Es hatte so ausgesehen, als ginge die Welt unter – und dann tat sie es doch nicht.“

Es sind solch eher beiläufige Bemerkunge­n, die ohne Erhabenhei­t und Abstraktio­n die Genesis der amerikanis­chen Nachkriegs­geschichte begleiten – die Rassenkraw­alle der frühen Sechziger, der drohende Atomkrieg, die Kubakrise, schließlic­h Vietnam. Auster zeigt kein ideales Amerika. Archie liest und liest, zum Beispiel „Die Reise ans Ende der Nacht“von Louis-Ferdinand Céline, während auf den Straßen von New York Polizei und Kriegsgegn­er aufeinande­r einprügeln.

Archie verliebt sich in die hochmusika­lische Anne-Marie, Tochter eines belgischen Diplomaten, die aber für ihn unerreichb­ar bleibt. Im Feriencamp erlebt er die ersten Pubertätsr­ituale und wird bei einem Gewitter von einem herabstürz­enden Ast erschlagen.

In einer anderen Version lernt Archie seine jüdische Herkunft näher kennen. Die Mutter arbeitet als Photograph­in für Verlage und Zeitschrif­ten und heiratet den aus Deutschlan­d stammenden Gil Schneiderm­an, mit dem sich der 12-jährige Archie zunächst ganz gut versteht.

Archie teilt mit Paul Auster das Faible für Baseball. Wiederum im Feriencamp freundet sich Archie mit dem jungen Art Federman an, der aber bald stirbt. Archie tröstet sich mit seiner aus Kinderzeit vertrauten Amy, die als Stiefschwe­ster zur „Kussverwan­dten“ernannt und später zur Langzeitge­liebten wird.

Ein Möglichkei­tswesen

Auster vertieft das Thema der sexuellen Lust und verbraucht dafür einen doch erhebliche­n Anteil der fast 1300 Seiten seines neuen Romans, ohne dass ihm dabei das Goethewort einfiele: „Getretener Quark macht breit, nicht stark.“Salopp könnte man sagen: Der junge Mann lässt nichts aus. Seine Entwicklun­g ist eine beständige Flucht aus der häuslichen Umgebung. Lesen, vor allem die Franzosen, und dann das Kino, die andere große Leidenscha­ft, helfen ihm über Verluste hinweg.

Archibald Ferguson durchläuft als Möglichkei­tswesen diesen Roman nicht als romantisch­er Einfaltspi­nsel, sondern als Langstreck­ler, der vor der Einsamkeit in die Erregung flieht, staunend über sich und das Weltgesche­hen, einer, der alles ausprobier­t, schwankend zwischen Schrott und Genie. Ziemlich zum Ende hin fragt er dann eine gerade aktuelle Freundin namens Celia: „Was meinst du, hat Camus recht oder nicht?“Wir kennen die Antwort nicht. Aber wenn schon Sisyphos, dann darf Archies Wunschfrau auch „Happy“heißen.

Paul Auster: 4321. Roman. Rowohlt. 1264 Seiten. 29,95 Euro.

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FOTO: SOEREN STACHE Der US-Schriftste­ller Paul Auster wird heute 70 Jahre alt. Er macht sich große Sorgen über die Zukunft der USA.

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