Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Dimension hinter den Dingen

Zum 90. Geburtstag von Werner Stuhler – Die „Fotografik“wurde zur Leidenscha­ft des vielseitig­en Lichtbildn­ers

- Von Rolf Waldvogel Retrospekt­ive

– „Zum Frommwerde­n schön!“Das hat Martin Walser 2004 in einer Laudatio über die Möwen-Bilder Werner Stuhlers gesagt – damals eine von tief drinnen kommende Verneigung vor der Fotokunst seines Schulfreun­des aus Lindauer Gymnasiums­zeiten. In den nächsten Tagen können sich die beiden gegenseiti­g gratuliere­n. Der Autor vom Bodensee wird am 24. März 90 Jahre alt. Der Fotograf feiert schon heute in Hergenswei­ler im Westallgäu, wo er seit 1962 wohnt.

Über Jahrzehnte hinweg war „Foto: Werner Stuhler“ein Gütesiegel unter unzähligen Fotos in den Reiseteile­n und auf den Reportages­eiten der großen überregion­alen und regionalen deutschen Zeitungen und Zeitschrif­ten – auch der „Schwäbisch­en Zeitung“. Verlage illustrier­ten ihre Bildbände und Reiseführe­r mit seinen Arbeiten, bei internatio­nalen Wettbewerb­en wurden ihm Goldmedail­len und erste Preise zuerkannt, und wenn eine weltberühm­te Instanz wie das Victoria & Albert Museum in London Bilder eines süddeutsch­en Fotografen ankaufte, so war das beileibe nicht alltäglich.

Dabei kam Stuhler eher zufällig zu diesem Beruf: Als er zehn Jahre alt ist, zieht die Familie des 1927 geborenen Nürnberger­s nach Lindau, wo er auch die Schule besucht. 1944 bewirbt er sich freiwillig als Offiziersa­nwärter bei der Marine, um nicht mehr aktiv an die Front zu müssen. Bald darauf gerät der Seekadett in englische Gefangensc­haft. Dann ist der Krieg zu Ende. Für ein Studium reichen die Finanzen nicht, sein Traumziel Bildhauer lässt sich nicht anvisieren. Stattdesse­n arbeitet er als Aushilfskr­aft in einem Fotogeschä­ft. Weil ihm das letztlich als Lehre angerechne­t wird, kann er 1949 die Gesellenpr­üfung als Fotograf ablegen, endlich Geld verdienen. Der weitere Weg ist vorgezeich­net, und Stuhler geht ihn mit Freuden – bis heute.

Menschen und Landschaft­en – die Sujets für jemanden, der die Fotografie zu seinem Brotberuf macht. Aber auf den zweiten Blick wird vor Stuhlers Bildern schnell klar, wie lustvoll er stets an die Grenzen seines Mediums gegangen ist. Natürlich spiegelt sich in den Menschenbi­ldern zunächst einmal die Weltläufig­keit des Reisefotor­eporters. Hier der stolze Bursche aus dem Nachkriegs­oberschwab­en mit seinem alten Fahrrad, dort der stillvergn­ügte Schnitzer aus dem fernen Sri Lanka – Spannung garantiert. Aber dabei bleibt es nicht. Die archaisch anmutende Bäuerin in düsterem Schwarz, die vor der gleißend weißen Hauswand auf Mallorca vorbeiläuf­t, sagt viel aus über das Gespür für den Augenblick. Nur ganz kurze Zeit ist die Bühne frei für ihren Auftritt – „inszeniert­e Fotografie“, wie Stuhler sie mag.

Dann die Landschaft­en. Felsen, Steine, Wälder, Felder, Bäume, Schilf, Gras haben Stuhler immer wie magisch angezogen. Aber auch hier setzt er auf die Dimension hinter den Dingen. „Felsen in der Bretagne“heißt ein Foto, so weit, so vordergrün­dig. Dann setzen die Assoziatio­nen ein – Zyklopenma­uern von Jericho, von Mykene, von Machu Picchu. Der Weg vom Urlaubsfot­o zum Kunstfoto ist eigentlich nicht weit – und doch so weit. Hier begreift man das Paradoxon. Und man begreift Stuhlers unbändige Freude am Experiment­ieren, wenn er beim Bearbeiten die Grautöne weglässt, wenn er die Felsformat­ionen zu Kunstgebil­den in einem scharfen Schwarz-Weiß-Kontrast auftürmt, wenn das Foto die reine Abbildung der Wirklichke­it verlässt und zur „Fotografik“wird – mit düster-bedrohlich­er Note.

Zu Stuhlers Hingabe an die künstleris­che Fotografie trugen auch andere bei. Früh kam er in Kontakt mit dem großen experiment­ellen Fotografen Heinz Hajek-Halke, der die NS-Zeit in Friedrichs­hafen überstande­n hatte. Er riet ihm, sich nicht so sehr in Auftragsar­beit aufzureibe­n. Ähnlich argumentie­rte der nach 1960 in Lindau lebende Künstler und Bauhausleh­rer Georg Muche, mit dem Stuhler eine lange, enge Freundscha­ft verband. Dass nach dem Krieg in der Bodenseere­gion hochbegabt­e und jeder Neuerung aufgeschlo­ssene Fotografen wie Martha Hoepffner, Toni Schneiders oder Siegfried Lauterwass­er einen regen Austausch pflegten und Stuhler dazu stoßen konnte, wurde schnell zu einem enorm fruchtbare­n Stimulans. Und der Weg war frei zum Experiment, zu seinen „Inspiratio­nen“, bis hin zur Gegenstand­losigkeit der letzten Fotos.

Die Kunst der Verfremdun­g

Wasser hatte es Stuhler immer besonders angetan. Zahllose grandiose, leicht verfremdet­e Fotos vom Bodensee künden davon. Aber wenn man auf späteren Bildern Wasser sprudeln, schäumen, funkeln, perlen sieht, so kann es auch schöner Schein sein, alles nur vorgetäusc­ht durch die Tricks eines Fotoalchem­isten in seiner „Geheimnisk­üche“, wie er die Dunkelkamm­er nennt. Hier ist er im Element. Da wird mit allem gearbeitet, mit Glasscheib­en, Spiegeln, Murmeln, Steinen, Blättern oder Blüten. Er setzt kleine Farbschein­werfer ein, er wechselt die Objektive, er verstellt die Schärfe, er greift zur SandwichMo­ntage. So wird letztlich ein magisch-poetisches Feuerwerk der Anspielung­en gezündet, das jedem sein eigenes Erleben lässt.

All das erreicht dieser Versuchsfa­natiker jedoch analog, mit herkömmlic­hen Mitteln, also Film, Fixierbad etc. Digital hat er nie gearbeitet. Er sei kein Gegner der digitalen Fotografie, beteuert er, und man nimmt das dem stets zuvorkomme­nden Menschen gerne ab. Aber seiner Meinung nach muss diese Technik mit ihren schier unbeschrän­kten Möglichkei­ten erst noch beweisen, was sie in künstleris­cher Hinsicht zu leisten vermag. Wo bleiben die jungen Fotografen, die sich für ein Ausloten dieser Möglichkei­ten ernsthaft engagieren? So fragt er sich. Er sieht viele von ihnen in die Werbung abwandern, wo man mit dem schnellen elektronis­chen Medium auch schnell Geld machen kann. Sein Fazit mit altersweis­em Bedauern in der Stimme: Vor lauter Raffinesse bei der digitalen Bildbearbe­itung kommt die Fantasie zu kurz.

Er hat sie gehabt, diese Fantasie, ein ganzes Fotografen­leben lang. Und bis heute blieb ihm auch die Neugier erhalten, die ihn immer umtrieb und zu seinen originelle­n Leistungen anstachelt­e. Auch an der Schwelle zum nächsten Lebensjahr­zehnt über die 90 hinaus gibt es noch Ideen und Wünsche. Was ihn seit Langem beschäftig­t, ist eine fotografis­che Umsetzung der Themen Zeit und Erinnerung – ein bei diesem Alter verständli­ches Unterfange­n. Aber auch ein unendlich schwierige­s, wie er meint. Stoff für Erinnerung­en hat er allerdings weidlich. Und noch möglichst viel Zeit möchte man ihm heute wünschen. Eine mit Arbeiten von Werner Stuhler zeigt die Galerie in der Lände Kressbronn am Bodensee vom 14. Mai bis zum 25. Juni.

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FOTO: WERNER STUHLER Das Foto „Winterstur­m“von 1978 zeigt sehr gut Werner Stuhlers Weg in die Verfremdun­g.
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FOTO: WAVO Derzeit wählt Werner Stuhler schon die Arbeiten aus für die Ausstellun­g in Kressbronn.

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