Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Aufbruchstimmung im Allgäu
Neuer Bildband mit Fotografien aus dem Heimhuber-Archiv führt zurück in die 1950er-Jahre
Der Unterschied könnte kaum größer sein: Drei Herren sitzen in Sakko und Krawatte in einer schicken Milchbar. Und zwei Männer hieven Holzbalken in die Trümmer der fast völlig zerstörten Sonthofer Pfarrkirche St. Michael. Ein Ochse zieht mühsam hintereinander gespannte, hoch mit Heu beladene Schlitten an den Oberstdorfer Loretto-Kapellen vorbei. Und ein schnittiges Cabrio braust den Fernpass hinauf – Italien, dem Land der Sehnsucht, entgegen. Das sind vier Aufnahmen von etwa 250, die ein neuer Bildband über das Allgäu zusammenfasst: „Heimat, Heu & Haferlschuh“. Mit vielen Schwarz-Weiß-Aufnahmen und einigen wenigen Farbfotos – vorwiegend aus dem Archiv der Sonthofer Fotografen-Familie Heimhuber – führt er zurück in die 1950er-Jahre, eine Zeit voller optimistischer Aufbruchsstimmung.
Zeitzeugen kommen zu Wort
Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg haben viele Leben gefordert und das Land verwüstet, die Menschen sehnen sich nach einem Neuanfang. „Sie blicken nach vorn, packen an, gestalten neu.“So schildern es die Autoren Ingrid Grohe und Klaus-Peter Mayr, beide Redakteure der „Allgäuer Zeitung“, in ihren faktenreichen, anschaulichen, einfühlsamen Begleittexten.
Grohe und Mayr sind im Allgäu aufgewachsen und zeigen die Menschen und ihre Region aus diversen Blickwinkeln. Vier Zeitzeugen kommen zu Wort: Heidi Biebl (Oberstaufen), Luise Mayr (Unterthingau), Berta Titscher (Oberstdorf) und Albert Wechs (Bad Hindelang). Sie erinnern sich an Alltag, Landwirtschaft und Tourismus, Brauchtum, Kultur und Sport in jener Zeit. Die Aufnahmen lassen den Leser eintauchen in jene Tage, als die Schlager von Bully Buhlan und Freddy Quinn eine heile Welt beschworen und die Menschen in der Wirklichkeit vor großen Herausforderungen standen. Denn der Neuanfang bringt einschneidende Veränderungen mit sich.
Die Technik hält immer mehr Einzug im Allgäu, einer vor allem bisher von bäuerlichen Familien geprägten Region: „Dieselrösser“der Firma Fendt zum Beispiel lösen Ochs und Pferd als Zugtiere ab. Motorroller, Autos und Omnibusse machen die Menschen mobil. Der Fremdenverkehr wächst, die Industrie floriert. Heimatvertriebene aus Osteuropa begründen neue Manufakturen, etwa Schmuckbetriebe in Neugablonz. Für ihre Strümpfe berühmt wird die Fabrik, die Julius Kunert in Immenstadt eröffnet.
Anderes bleibt noch lange, wie es ist: vor allem bei der Bewirtschaftung der Bergwiesen. Neuen Aufschwung erhält das Brauchtum. Vieles, was wir heute kennen, nimmt seinen Anfang in jener Zeit oder erlebt dort seine Wiedergeburt: Der Viehscheid wird zum Volksfest, das Alphorn wieder eingeführt.
„Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.“Diesen Rat der Schriftstellerin Pearl S. Buck haben die Fotografen der Familie Heimhuber beherzigt, die seit fünf Generationen das Leben im Allgäu dokumentieren. So wird er auch zum Leitfaden für dieses Buch, das dem Leser den Alltag der Menschen veranschaulicht, ihre kleinen Freuden, ihre Sehnsüchte, ihre Leiden. Gespickt mit Zitaten wie diesem und Allgäuer Sprüchen gewährt es tiefen Einblick in das Leben einer Region während einer entscheidenden Zeitspanne: „Ma mueß allat ’s Bescht hoffa, ’s Schleacht kommt vo sell.“