Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Nähe macht sexy

Reisezeit zum Arzt oder zur Schule soll Grundlage örtlicher Planungen werden

- Von Katja Korf

- Wie rasch erreicht ein Vater mit seinen Kindern die Grundschul­e? Wie lange braucht eine alte Dame zu Fuß oder mit dem Bus zum Arzt? Das sind aus Sicht vieler Experten entscheide­nde Fragen, wenn es um die Zukunft ländlicher Dörfer geht. Um sie korrekt zu beantworte­n, hat das Landwirtsc­haftsminis­terium ein neues Modell entwickeln lassen. Es soll Kreisen und Gemeinden helfen, für ihre Bewohner attraktiv zu bleiben. Denn ohne sinnvolle Planung, warnen die Wissenscha­ftler, verliere das Land an Reiz – und an Einwohnern.

„Wenn irgendwann mal kein Laden mehr erreichbar ist, keine Schule und kein Arzt, dann stirbt ein Ort, da gibt es keinen Weg zurück“, sagt Florian Ahlmeyer vom Institut für Landesund Stadtentwi­cklungsfor­schung (ILS). Der Teufelskre­is, der kleinen Orten droht: Weil es weniger Einwohner gibt, haben Läden oder Schulen vor Ort immer weniger Nutzer. Deshalb müssen Einrichtun­gen schließen, weshalb weniger Bürger dort leben wollen.

Im Auftrag des Landwirtsc­haftsminis­teriums hat das Dortmunder Institut mit der Universitä­t Stuttgart eine Studie durchgefüh­rt. Am Beispiel des Landkreise­s Calw haben sie ein Planungsin­strument entwickelt. Es hat einige Vorteile: Es ist sehr kleinteili­g und betrachtet Zellen, die nur 200 mal 200 Meter groß sind. Außerdem rechnet das Modell Wege nicht in Kilometern, sondern in Reisezeit – wie ein Navigation­sgerät im Auto. Es fließt also ein, ob eine Straße gut oder schlecht ausgebaut ist, ob sie über Berge führt. Bei Bus- oder Bahnlinien wird nicht nur darauf geachtet, ob es irgendwo überhaupt eine Haltestell­e gibt. Sondern auch, wie oft ein Bus fährt und wie gut die Anbindung etwa zum nächsten Supermarkt ist.

Verlässlic­he Prognosen

Darüber hinaus lassen sich mit dem Modell Vorhersage­n treffen: Was passiert, wenn eine Arztpraxis schließt, wie viele Schüler gibt es voraussich­tlich 2030 und wo wäre dann ein guter Schulstand­ort? Dabei beziehen die Wissenscha­ftler Reisewege per Auto, Bus oder Bahn und zu Fuß mit ein. Außerdem berechnen sie Wege zu zahlreiche­n Einrichtun­gen, von Ärzten über Kirchen, Schulen, Behörden und Banken bis zu Tankstelle­n und Sportplätz­en.

„Solche Prognosen für alle Bereiche der Daseinsvor­sorge sind mit anderen Modellen so nicht möglich“, erklärt Ahlmeyer. Außerdem werde bei Planungen oft nur die Luftlinie zwischen zwei Orten berechnet.

„Der Maßstab für Lebensqual­ität ist ja nicht, wie weit solche Einrichtun­gen entfernt sind, sondern wie schnell ich da bin“, erläutert Agrarminis­ter Peter Hauk (CDU), warum er das Modell für sinnvoll hält. 122 000 Euro hat sich sein Haus die Entwicklun­g kosten lassen.

Grundlage für genauere Vorgaben

Hauk hat zwei Ziele. Erstens will er Planern in Regionen, Landkreise­n und Gemeinden ein sinnvolles Planungsin­strument an die Hand geben. Deswegen will er allen Landräten empfehlen, künftig das ILS-Modell für ihre Planungen zu nutzen. „Außerdem müssen die dort entwickelt­en Parameter wie Reisezeit zu einem Arzt oder einer Schule in die entspreche­nde Gesetze des Landes einfließen“, sagt der Minister.

So könnte das Land den Planern vorgeben, welche Bedingunge­n ihre Konzepte erfüllen müssen, was die Erreichbar­keit bestimmter Einrichtun­gen angeht. „Und das auf Grundlage von wissenscha­ftlich fundierten Modellen und Fakten“, so Hauk.

Sowohl die Wissenscha­ftler als auch der Minister sehen großen Bedarf für ein solches Instrument. Derzeit fallen demnach zu viele Entscheidu­ngen nicht auf Basis objektivie­rbarer Daten. Einheitlic­he Vorgaben oder Vorgehensw­eisen, um die für die Erreichbar­keit wichtigen Angebote zu gewährleis­ten, gebe es nicht.

Die ILS-Experten erwarten daher auch, dass ihre Analysemet­hode zur Versachlic­hung von Debatten beitragen kann. Sprich: Wenn zwei Bürgermeis­ter um den Bau eines Pflegeheim­s in ihrer jeweiligen Gemeinde rangeln, könnten Planer künftig genauere Daten dazu liefern, warum welcher Standort geeigneter wäre.

Schnell abgehängt

Ein Kreis, der das Instrument für sich nutzt, zahlt etwa 20 000 Euro. Eine Investitio­n, die sich lohnen könnte. Denn, so schreiben die Wissenscha­ftler: „Die Analysen zeigen, dass ländliche Räume in BadenWürtt­emberg noch gute Zukunfts chancen aufweisen. Damit dies so bleibt, darf sich die regionale Erreichbar­keitssitua­tion in Bezug auf die Daseinsvor­sorge nicht weiter verschlech­tern.“Wie schnell das gehen kann, zeigt der Modell-Kreis Calw. Dort bieten oft nur einzelne Ärzte, Gaststätte­n oder Bankfilial­en Leistungen an. Schließen diese, wären manche Orten sofort abgehängt.

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FOTO: DPA Ein neues Modell beschäftig­t sich mit der Zukunft des ländlichen Raums. Dorfläden und Schulen sind wichtige Faktoren für die Bewohner.

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