Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Aus dem engen Tal in die weite Welt
Der Künstler Alberto Giacometti wurde im Schweizer Bergell geboren und kehrte immer wieder dorthin zurück
Das sind gewissermaßen heilige Brandzeichen“, sagt David Wille und lächelt verschmitzt. Das Muster schwarzer Flecken auf den Fichtenbrettern entstand, weil Alberto Giacometti stets achtlos seine Zigarettenstummel zu Boden warf. Versunken in seine Arbeit klebte er Stunde um Stunde Tonbatzen auf ein Gerüst, knetete, strich glatt, raute auf – und nie war er zufrieden mit den spindeldürren Figuren, die unter seinen Händen entstanden. Seine Modelle saßen unbewegt auf ihrem Stuhl, der stets an der Stelle stand, die die Markierungen auf den Dielen vorgaben – und auch die sind immer noch zu sehen.
Der Kunsthistoriker David Wille hat das Atelier des Künstlers in Stampa rekonstruiert. Auf dem Tisch liegt die Palette mit eingetrockneten Farben, denn Alberto saß mit der gleichen Intensität auch vor der Staffelei. Rote Lampionblumen stehen daneben wie früher so oft. Auf einer Wand hat Giovanni, Albertos Vater, dem das Atelier gehörte, ein buntes Bild angefangen und nie vollendet.
Rechts und links Granitberge
40 Jahre lang lebte Alberto in Paris, auf Du und Du mit den Großen seiner Zeit: Picasso, Strawinsky, Marlene Dietrich, Sartre. Und er kam doch immer wieder zurück nach Stampa, zurück in sein heimisches Tal. Das Bergell ist ein tief eingeschnittenes Bergtal, das von Maloja im Schweizer Engadin abfällt in die italienische Lombardei, 1500 Meter Höhenunterschied auf 30 Kilometern Länge, 1500 Einwohner insgesamt. Steil ragen die Granitberge beiderseits hoch, fünf, sechs Monate bleiben die Dörfer ohne Sonne. Manchmal ähneln die Gipfel japanischen Holzschnitten, manchmal Aquarellen, deren Blau- und Weißtöne ineinanderfließen – genau wie Giovanni und Alberto sie gemalt haben.
Geboren wurde Alberto Giacometti 1901 im Dorf nebenan, Borgonovo, aber schon zwei Jahre später siedelt die Familie um nach Stampa. Hier lernt er von Vater Giovanni zeichnen und malen. 1915 kam er in die evangelische Schule in Schiers bei Chur. Er beendet sie aber nicht, sondern nahm mit dem Segen seiner Eltern Kurse in Genf, reiste nach Venedig und zog 1922 nach Paris, wo er bis zum Ende seines Lebens wohnte.
Im Bergell war er oft, hat aber nicht allzu viele Spuren hinterlassen. Die wenigen, die es gibt, versucht Dr. Marco Giacometti zu retten und zu nutzen. Der 56-jährige Lehrer ist ein weit entfernter Verwandter Albertos, schlank, silbergrau und umtriebig. Er nimmt Interessierte mit auf einen Rundgang. Da ist das Atelier, dort das Haus mit der einstigen Bar, und hoch überm Dorf die Höhle, in der Alberto sich als Kind gerne versteckte. Ein so einschneidendes Erlebnis, dass er noch Jahre später darüber schrieb. Hin und wieder kramt Marco Fotos von Alberto hervor, die an genau dieser Stelle gemacht wurden. Sie zeigen einen Mann mit buschigen Brauen, ungebärdigem Haarschopf und einem von tiefen Linien gekerbtem Gesicht, von dem etwas Störrisches und zugleich Gütiges ausgeht. Als Chansonnier könnte er durchgehen, oder als Weinbauer.
Wenn er im Dorf war, erzählt Marco, sprach er nie über Surrealismus oder Probleme mit Galeristen, sondern fragte nach dem Holzpreis und dem letzten Hochwasser der Maira. Genauso gerne aber provozierte er seine Freunde und nahm etwa ihre Furcht vor den Russen auf die Schippe. Mit seinen Skulpturen konnte fast keiner der Dorfbewohner etwas anfangen. Kunst, das waren die farbenprächtigen Landschaften seines Vaters. Den Menschen aber, den zerknitterten Kerl, der immer eine Krawatte trug, den mochten sie. Hätte allerdings jemand prophezeit, dass sein Bild einmal den Schweizer 100Franken-Schein zieren würde – laut gelacht hätten sie alle.
Von oben fällt der Blick auf das Dorf Stampa. Zwischen der Shell-Garage am einen und der Socar-Tankstelle am anderen Ende leben hier gerade noch 50 Menschen. Das große Patrizierhaus in der Mitte ist die Ciäsa Granda. Das Heimatmuseum versammelt auf vier Etagen Klöppelwerkzeug und Webstühle, eine Käseküche und eine Zuckerbäckerei, eine Hufschmiede und eine der Hütten, in denen Kastanien überm Feuer getrocknet werden – die wesentlichen Einnahmequellen im Bergell.
Multimedialer Rundgang
In einem unterirdischen Anbau werden Bilder der Giacomettis gezeigt, sowie Albertos Skulptur „Lotar III“, die zunächst auf seinem Grab stand, aus Angst vor Diebstahl dann aber abmontiert wurde.
Die „Fondazione Centro Giacometti“, der Marco vorsteht, plant, in leer stehenden Ställen alte Räume virtuell wiederherzustellen und in einen multimedialen Rundgang einzubinden. Ein Shop soll entstehen und ein Dokumentationszentrum. Derzeit entwickelt er eine App namens „Art Walk“, über die vor Ort 22 kurze Filmszenen abzurufen sind. In denen erzählen Einheimische, die Alberto noch gekannt haben, von Begegnungen mit ihm. Und der Schauspieler Federico Basso – dem Künstler wie aus dem Gesicht geschnitten – knetet an einer Figur, während er laut über seine Kunst nachdenkt.
Im Januar 1966 kam Alberto zum letzten Mal ins Bergell. Todkrank hatte er es von Paris allerdings nur bis Chur geschafft, wo er im Kantonsspital am 11. Januar an Herzversagen starb. Sie brachten den Toten in sein Atelier nach Stampa. „Genau hier stand sein Sarg“, sagt Wille und deutet auf den Fleck mit den Brandstellen. Beigesetzt wurde er im Grab der Familie in Borgonovo. Für immer jetzt im Bergell. Das ihm zu eng war. Und von dem er doch nie lassen konnte. Weitere Informationen bei Switzerland Tourismus, Tel.: 00800/10020030 (kostenlos), www.MySwitzerland.com. Genaueres über das Bergell auf
www.bragaglia.ch, und alles Wichtige über die Ciäsa Granda auf www.ciaesagranda.ch. Die Beziehung zwischen dem Bergell und den Giacomettis beleuchtet das Centro Giacometti in Stampa (www.centrogiacometti.ch). Die Recherche wurde unterstützt von Schweiz Tourismus.