Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Das Unterhaus löst sich auf
Britisches Parlament macht mit großer Mehrheit den Weg für Neuwahlen frei
- Mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit hat das Londoner Unterhaus am Mittwoch seiner Selbstauflösung nach einer nicht einmal zweijährigen Legislaturperiode zugestimmt. Damit ist der Weg frei für die von Premierministerin Theresa May geforderte Neuwahl am 8. Juni. In ihrer von dauernden Zwischenrufen unterbrochenen Ansprache begründete die konservative Regierungschefin ihr Anliegen mit dem Wunsch, einen neuen Rückhalt für die anstehenden EUAustrittsverhandlungen zu gewinnen: „Wir brauchen ein Mandat für den Erfolg unserer Brexit-Strategie.“
Sprecher der Opposition wiesen darauf hin, dass die 60-Jährige seit ihrer Amtsübernahme immer wieder die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen ausgeschlossen hatte – zuletzt vor vier Wochen. „Der Premierministerin kann man nichts glauben“, sagte der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn. Seine Partei will den Wahlkampf mit klassischen Themen wie Gesundheit und Bildung bestreiten, plant zudem eine Steuererhöhung für Spitzenverdiener.
Die Wahl habe weniger mit dem nationalen Interesse zu tun als vielmehr mit dem „verheerenden Zustand der Labour-Party“, argumentierte Angus Robertson, Fraktionschef der schottischen Nationalpartei SNP. Theresa May sehe die Chance für einen harten Brexit samt Austritt aus dem EU-Binnenmarkt sowie weiterer Einsparungen bei den Sozialleistungen. Bei der Abstimmung votierte Labour mehrheitlich mit der Regierungsfraktion, hingegen enthielten sich die SNP-Abgeordneten. Liberaldemokraten und Kleinparteien stimmten dagegen. Die Abstimmung endete mit 522:13 für die Neuwahl.
Im Durchschnitt der letzten Umfragen liegen die Konservativen bei 43 Prozent (2015: 37) vor Labour mit 23 (30), Ukip mit 11 (13) und den Liberaldemokraten mit 10 (8) Prozent. Ein vergleichbares Ergebnis am voraussichtlichen Wahltermin 8. Juni würde den Torys einen Erdrutschsieg und Vorsprung von gut 100 Mandaten vor allen Oppositionsfraktionen sichern.
Brüssel sieht Zeitplan gesichert
In Brüssel hätte man mit einem Wahlsieg von May wohl kein Problem. Für die europäische Seite sei es von Vorteil, einen selbstbewussten und verlässlichen Verhandlungspartner zu haben, ließ sich ein EUSpitzenbeamter zitieren. Der Zeitplan der im Juni startenden Austrittsgespräche gerate dadurch ganz sicher nicht durcheinander.
Sollten Mays Konservative wider Erwarten Parlamentssitze verlieren, kocht die Debatte über den von ihr angestrebten radikalen Austritt aus der EU oder einen Verbleib im Binnenmarkt wohl wieder hoch. Für den noch unwahrscheinlicheren Fall, dass Labour eine Mehrheit erringt, muss das Verhandlungsmandat vermutlich neu formuliert werden. Schließlich hatte sich Corbyn offiziell, wenn auch halbherzig, für einen Verbleib in der EU eingesetzt.
Mit Interesse wird man in Brüssel auch darauf schauen, wie die schottische Nationalpartei bei den Wahlen abschneidet. Kann sie ihre starke Stellung behaupten, rückt ein zweites Referendum über die mögliche Abspaltung Schottlands vom Königreich und einen Verbleib in der EU näher.
Dass der Wahlkampf schon begonnen hat, zeigt ein Blick in die britische Boulevardpresse. Die Europäische Arzneimittelagentur und die Bankenaufsicht müssten London verlassen – das sei eine Strafaktion der zurückgewiesenen Europäer, erklärte der „Express“empört seinen Lesern. Ein Sprecher der EU-Kommission reagierte darauf am Mittwoch in einem Tonfall, wie man ihn für kleine Kinder benutzt: Wer kein EU-Mitglied sei, beherberge keine EU-Agenturen, so sei das nun mal. Verhandelt werde lediglich über die Frage, in welchem Umfang sich London an den Umzugskosten beteiligen müsse.