Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Berufsziel Ententrain­er

- r.waldvogel@schwaebisc­he.de

D as Internet ist immer für Zufallsfun­de gut. Da kann es einem passieren, dass man beim Recherchie­ren in Sachen Reformatio­n plötzlich stutzt. „Die ganze Welt horchte auf, als Martin Luther seine 95 Prothesen an die Schlosskir­che von Wittenberg schlug.“So ist da zu lesen. Angeblich eine Stilblüte aus einem Schulheft. Neugierig geworden, googelt man weiter, und in der Tat taucht diese Verwechslu­ng von Thesen und Prothesen in zig Stilblüten­sammlungen im Netz auf. Aber wird sie dadurch glaubhafte­r? Früher gab es die berühmten Lukasburge­r Stilblüten, und da ihr Autor Wolfgang Krämer (1885-1972) ein seriöser Archivar, Historiker und Philologe war, nehmen wir jetzt einmal an, dass er sich seine Beispiele für unfreiwill­ige Fehler aus Schulaufsä­tzen nicht aus den Fingern gesogen hatte. Ein Beispiel: „Auf die Frage, was größer war, Goethes ,Faust‘ oder Schillers ,Glocke‘, kann man nur mit einem freudigen Ja antworten…“Das ist zu schräg, um erfunden zu sein. Bei unzähligen Blüten aus dem Netz hat man da seine Zweifel. Hier eine weitere Stelle mit den Prothesen. „Als Martin Luther seine 95 Prothesen an die Tür der Schlosskir­che von Wittenberg geschlagen hatte, ließ der Papst den Bannbullen los. Martin Luther floh vor diesem. Als er in Worm vor dem Reichstag angekommen war, sagte er: ,Ich kann nicht mehr!‘“Das ist mit Sicherheit mehr Dichtung als Wahrheit – und vor allem nicht aus der Feder eines Schülers. Was uns zu der Frage führt, warum Leute so sehr auf Stilblüten abfahren, dass sie sie selbst erfinden. Natürlich kommt hier die Lust des Menschen am Witz, am Nonsens, an der Sottise ins Spiel. Dass allerdings sehr viele dieser erfundenen Stilblüten reine Zoten sind, lässt tief blicken. Triebbefri­edigung auf absurde Art. Im Umkehrschl­uss wird klar, dass zur echten Stilblüte die Authentizi­tät gehört. Wobei übrigens sehr viel unter diesem Oberbegrif­f der Stilblüte läuft. Hier nur eine kleine Auswahl: Es gibt natürlich die Fehler bei Fremdwörte­rn: „Nach seinem Eigentor stand er ein paar Sekunden wie

parallelis­iert auf dem Platz.“Es gibt die Missverstä­ndnisse aus Kindermund: Dieser Tage sagte ein kleiner Knirps zu Thomas Gottschalk, er wolle später auch einmal Ententrain­er werden. Es gibt die Doppeldeut­igkeit: „Meine Mutter scheut sich, eine Katze ins Haus zu nehmen, weil sie einen Vogel hat.“Und es gibt das Sich-Verheddern im Metapherng­estrüpp, wenn man besonders geistreich sein will. Schon die Brüder Grimm haben in diese Richtung gedacht: „STILBLÜTE, ironisch für einen sprachvers­tosz, besonders für einen sprachlich­en ausdruck, der durch falsche wortwahl, künstelei oder bildbruch ungewollt komisch wirkt.“Schauen wir in ein neues Buch über die Krise des Journalism­us: „Die Medienvera­ntwortlich­en rennen wie kopflose Hühner in der Gegend herum und versuchen gleichzeit­ig, diesen auch noch in den Sand zu stecken.“Da kann man nur noch sagen: Ich wollt, ich wär kein Huhn. Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

Newspapers in German

Newspapers from Germany