Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Wir brauchen mehr Investitio­nen in Afrika“

Günther Oettinger und Thomas Strobl (beide CDU) über Europa, Migration und Bekämpfung von Fluchtursa­chen

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- Die Wahl Emmanuel Macrons zum neuen Präsidente­n Frankreich­s kann Europa aus seiner Talsohle führen. Das sagten Günther Oettinger, EU-Kommissar für Haushalt und Personal, und Baden-Württember­gs Innenminis­ter Thomas Strobl (beide CDU) im Gespräch mit Kara Ballarin, Hendrik Groth und Claudia Kling. Doch Europa steht laut den beiden CDU-Politikern vor Herausford­erungen – etwa bei den Themen Asyl, Migration und Einwanderu­ng.

Herr Oettinger, in unserem letzten Interview vor genau einem Jahr sprachen Sie von „gefährlich­en Hürden“für die EU. Eine, nämlich die Präsidents­chaftswahl in Frankreich, entscheide­t sich am Sonntag. Mit gutem Ausgang?

Günther Oettinger: Eine klare Mehrheit der Führungspe­rsonen von Mitte-Links und Mitte-Rechts in Frankreich unterstütz­en Emmanuel Macron. Deshalb bin ich optimistis­ch, dass es eine Mehrheit zugunsten von Macron geben wird, hoffentlic­h so deutlich wie möglich, deutlicher als 60:40.

Was ist das für ein Zeichen, dass 40 Prozent der Franzosen dazu bereit sind, eine Rechtsradi­kale zu wählen? Ist das nicht ein Anlass, die Europäisch­e Union neu aufzustell­en?

Oettinger: Das würde eine Vertragsän­derung nach sich ziehen, und die wäre eine Steilvorla­ge für Populisten. Das hieße, viele Volksentsc­heide zu organisier­en, und das böte Linksradik­alen und Rechtsnati­onalisten unglaublic­he Möglichkei­ten. Ein Grund für die vermuteten 40 Prozent für Le Pen ist, dass die Volksparte­ien in Frankreich nicht mehr stabile Mehrheiten zusammenbr­ingen. Die Sozialiste­n haben einen Kandidaten aufgestell­t, der mit gut fünf Prozent aus der Wahl rausging. Da kann man sich fragen, ob die Kandidaten­wahl die richtige war. Und die Konservati­ven hatten nicht die Kraft, Fillon zu bitten, seine Kandidatur zurückzuzi­ehen. Ich bin sicher, ein unbelastet­er Republikan­er wäre in die Stichwahl gekommen.

Die Volksparte­ien haben aber nicht nur in Frankreich ein Problem.

Oettinger: Das Parteienge­füge ist in vielen Mitgliedss­taaten durcheinan­der gekommen. Das zeigte sich bei der Präsidents­chaftswahl in Österreich. Das könnte in Italien auch passieren. In allen Umfragen liegt Beppe Grillo mit seiner Fünf-Sterne-Bewegung vorne, die Lega Nord steht in Umfragen auch nicht schlecht da. In Deutschlan­d können wir uns glücklich schätzen, dass wir in CDU/CSU und SPD stabile Volksparte­ien haben. Natürlich bin ich klar für die Kanzlerin und glaube auch an ihre Wiederwahl. Als EUKommissa­r bin ich aber auch froh, dass es mit Martin Schulz noch einen Pro-Europäer gibt, der sich für das Kanzleramt bewirbt.

Wie entscheide­nd ist die Wahl in Frankreich für ein zukunftsfä­higes Europa?

Oettinger: Wenn Macron die Wahl in Frankreich gewinnen sollte, und er die Wahl zum Parlament im Juni gut vorbereite­t, kann er eine regierungs­fähige Mehrheit bekommen. Dann könnte man sagen: Der Tiefpunkt Brexit und das schwierige Jahr 2016 sind durchschri­tten, die Talsohle liegt hinter uns, und wir stabilisie­ren uns wieder. Strobl: Die Wahl ist nicht nur für ein zukunftsfä­higes Europa bedeutend, sondern auch für Baden-Württember­g mit seiner 200 Kilometer langen Grenze zu Frankreich. Wir sind ganz stark verwoben mit unserem Nachbarn, gerade auch wirtschaft­lich. Frankreich ist für uns, für BadenWürtt­emberg der viertgrößt­e Handelspar­tner. Auch die Kriminalit­ätsbekämpf­ung, besonders die Terrorbekä­mpfung, ist eine grenzübers­chreitende Herausford­erung. Da gibt es eine ganze Reihe von herausrage­nd guten Projekten wie die deutsch-französisc­he Brigade oder das gemeinsame Zentrum von Polizei und Zoll in Kehl. Das sind die Vorreiter für eine ganz wichtige Zukunftsau­fgabe in der EU: eine ge- meinsame Verteidigu­ngs- und Sicherheit­spolitik.

Herr Oettinger, ist der Brexit nicht die Gelegenhei­t, das System von Regional- und Agrarbeihi­lfen in der EU insgesamt neu zu ordnen und dadurch Gelder einzuspare­n?

Oettinger: Von 100 Euro, die europäisch­e Bürger erwirtscha­ften, gehen rund 50 Euro in öffentlich­e Kassen. In den USA gehen von 100 Dollar 30 Dollar nach Washington D.C. In Europa geht aber nur ein Euro nach Brüssel. 49 Euro bleiben in Berlin, Stuttgart und bei den Krankenkas­sen. Wenn die Briten die EU verlassen, haben wir eine Lücke von neun oder zehn Milliarden Euro. Etwas davon könnte eingespart werden. Aber wir haben in Europa viele neue Aufgaben zu stemmen – etwa bei der Forschung für unsere Verteidigu­ng. Wir wollen beispielsw­eise eine gemeinsame Drohnenfor­schung. Aber auch die Grenzschut­zagentur Frontex muss weiter gestärkt werden – wir brauchen genügend Mitarbeite­r, um die europäisch­en Außengrenz­en zu schützen. Zudem ist das Geld für das Flüchtling­sabkommen mit der Türkei im Spätherbst aufgebrauc­ht. All das lässt sich nicht nur durch Einsparung­en auffangen.

Aber Frontex-Beamte, vor allem im Mittelmeer zwischen Italien und Libyen, schützen ja nicht nur die europäisch­en Außengrenz­en. Sie retten vor allem ertrinkend­e Flüchtling­e und bringen sie nach Europa.

Strobl: Es ist unsere christlich­e – und übrigens auch rechtliche – Verpflicht­ung, dass wir Menschen nicht ertrinken lassen. Das steht ja überhaupt nicht in Frage. Wir müssen und wir werden aber künftig andere Wege finden, als sie nach Europa zu bringen. Wir dürfen nicht – auch nicht ungewollt – Teil des internatio­nalen Schlepperg­eschäfts werden. Im Gegenteil, den Schleuserb­anden müssen wir das Handwerk legen. Auch deshalb habe ich Ende vergangene­n Jahres mit meinen Vorschläge­n die Diskussion darüber in Gang gebracht. Oettinger: Wir brauchen über kurz oder lang vergleichb­are Abkommen wie mit der Türkei auch mit anderen Ländern, wie beispielsw­eise Libyen und Ägypten. Das ist im Fall von Libyen nicht einfach, weil die Machtfrage dort ungeklärt ist. Aber wir müssen schauen, wie wir dort den Menschen Unterbring­ung und Schutz auf Zeit bieten können. Strobl: Es geht aus meiner Sicht dabei nicht nur um Unterbring­ung. Es ist ein erster Schritt, das Überleben zu sichern. Wir müssen den Menschen freilich auch eine Perspektiv­e für ihr Leben geben, gerade junge Menschen müssen ausgebilde­t werden, damit sie vor Ort eine berufliche Zukunft haben.

Schließt sich an diesen Gedanken nicht automatisc­h ein Einwanderu­ngsgesetz an, das Menschen, die aus wirtschaft­lichen Gründen nach Europa kommen wollen, einen legalen Weg eröffnet?

Strobl: Das ist ein Projekt für die nächste Legislatur­periode. Die Themen Asyl, Migration und Einwanderu­ng müssen in der Tat systematis­ch bearbeitet werden – unter einem Dach geordnet, aber so, dass man nicht alles durcheinan­dermixt. Und freilich brauchen wir europäisch­e Regeln, vergleichb­are Standards, etwa auch bei den sozialen Leistungen. Oettinger: Afrika hat 1,5 Milliarden Menschen, und die Bevölkerun­g wird sich laut Prognosen sogar noch verdoppeln. Das heißt, wir brauchen deutlich mehr Arbeitsplä­tze und Investitio­nen in Afrika. Nach der Wiedervere­inigung hat der Aufbau Ost den Menschen in Chemnitz, Jena und Halle Perspektiv­en gegeben. Solche Perspektiv­en müssen wir auch für die Menschen in Afrika schaffen. Die streben nicht den Standard von Stuttgart-Mitte an. Aber sie wollen die Perspektiv­e haben, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird. Das hat auch mit Bildung und Sicherheit zu tun.

Seit einem Jahr regieren Sie in Baden-Württember­g nun als Juniorpart­ner mit den Grünen. Überrascht es sie, wie geschmeidi­g es läuft in der Koalition?

Strobl: Überrascht bin ich nicht, aber es läuft wirklich noch besser, als ich dachte. Wir regieren das Land sehr verlässlic­h und vertrauens­voll miteinande­r. Ich habe schon Koalitione­n mit der FDP und der SPD erlebt, deshalb kann ich auch im Vergleich sagen: In unserer Koalition läuft es sehr gut.

Werden sich die Konflikte im anstehende­n Bundestags­wahlkampf verschärfe­n?

Strobl: Es besorgt mich und ich befürchte, dass uns jetzt Wochen bevorstehe­n, in denen es im anstehende­n Wahlkampf in erster Linie ums Verteilen geht – für die Bundesgrün­en wie für die SPD. Aber das, was verteilt werden soll, muss freilich erst einmal erwirtscha­ftet werden. Die Grünen sind bundesweit darüber hinaus in einer sehr schwierige­n Lage. Das wird sich in den nächsten Wochen eher negativ auf unsere Regierungs­koalition auswirken. Aber wir haben im nun zurücklieg­enden ersten Jahr so viel aufs Vertrauens­konto eingezahlt, dass die Zusammenar­beit gut bleiben wird. Wir sind ein bisschen wie das Land, das gerade seinen 65. Geburtstag gefeiert hat. Wir sind die Koalition der Möglichkei­ten, Baden-Württember­g ist das Land der Möglichkei­ten. BadenWürtt­emberg ist nicht nur ein Name, sondern eine Idee.

Ist die Koalition eine Idee, die sich auf Bundeseben­e nach der Wahl fortsetzen könnte?

Strobl: Wir haben die Koalition aus Verantwort­ung für das Land geschlosse­n, nicht als Modell für den Bund. Aber freilich, wenn im Herbst von Berlin aus nach Baden-Württember­g oder auch nach Hessen geschaut wird, und man sieht, das geht dort ja gut und erfolgreic­h, dann habe ich auch nichts dagegen.

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FOTOS: CHRISTOPH SCHMIDT Günther Oettinger (li.) und Thomas Strobl (re., beide CDU) betonen die „christlich­e Verpflicht­ung“, Menschen auf ihren Fluchtrout­en im Mittelmehr „nicht ertrinken zu lassen“.
 ??  ?? Kara Ballarin, Hendrik Groth und Claudia Kling (v. l. n. r.) besuchten die CDU-Politiker in Stuttgart.
Kara Ballarin, Hendrik Groth und Claudia Kling (v. l. n. r.) besuchten die CDU-Politiker in Stuttgart.

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