Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Reformatio­n führte in die Demokratie

Professor Wegner sprach von Luther als einem polemische­n Denker, dem die zivile Gesellscha­ft zu verdanken sei

- Von Waltraud Wolf

- Im Johannes ZwickHaus hieß Dr. Berthold Suchan als Vorsitzend­er der ökumenisch­en Erwachsene­nbildung in Riedlingen Professor Dr. Gerhard Wegner zu seinem Vortrag über die Bedeutung der Reformatio­n für die Menschen heutzutage willkommen und schlug gleich den Bogen in das Jahr 1522. Damals hatte der Namensgebe­r Zwick reformator­isches Gedankengu­t unter die Gläubigen in der Donaustadt gebracht, bevor er 1525 durch kaiserlich­es Mandat abgesetzt wurde und in seine Heimatstad­t Konstanz zurückkehr­te.

Bei Wegner, Direktor des Sozialwiss­enschaftli­chen Institutes der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d, stand der Reformator Martin Luther im Mittelpunk­t, ein „durch und durch polemische­r Denker“, ein Mensch, der andere verletzt habe, gegenüber den Bauern Mord und Totschlag propagiert­e, Gräben aufriss, sich antisemiti­sch äußerte, für den Gewalt ein legitimes Mittel war. „Luther war kein Demokrat, kein Verfechter des Rechtsstaa­tes“, hielt Wegner vor stattliche­r Zuhörerzah­l fest. Und dennoch gebe es eine Verbindung. Ohne Reformatio­n, so der Referent, gäbe es keine Demokratie. Mit ihr sei es zu einem epochalen Höhepunkt gekommen, der bis heute fortwirke: der Entdeckung einer neuen Form des gesellscha­ftlichen Lebens, die nicht mehr auf religiös oder sonst wie legimitier­te Hierarchie­n beruhe.

Die religiöse Hierarchie sei von Luther ausgehebel­t worden. Die Anerkennun­g des Menschen war durch Gott gewährleis­tet und damit durch eine Instanz außerhalb der Gesellscha­ft. Dies habe zu neuer Freiheit geführt, zur individuel­len Gewissensb­ildung. Die Art der Gewissensb­ildung, der persönlich­en Verantwort­ung prägte das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben, was sich in den Jahrhunder­ten noch mehr durchgeset­zt habe.

„Luther wollte eine zutiefst religiöse Revolution“, zeigte sich Wegner überzeugt. Die Christen sollten ihren Glauben im Alltag leben, den Alltag als Buße begreifen. Rituelle Gottesdien­ste wertete er ab, er polemisier­te gegen die Feiertage, erklärte Wegner Fleißig zu sein, sei Gottes Gebot, weshalb er auch gegen die Almosen für die Armen anging, durch Gelage der Brüderscha­ften finanziert.

Kern der Demokratie gelegt

Durch die Entheiligu­ng seien viele Riten weggefalle­n. Es sei darum gegangen, bürgerscha­ftliche, kooperativ­e und „vernünftig­e“Strukturen zu entwickeln, womit der Kern der Demokratie gelegt worden sei. Die Bürger hätten entscheide­n müssen, wie sie leben wollten. Die Verhältnis­se seien nicht mehr „Gott gegeben“gewesen, sondern Ausdruck wirtschaft­lichen Handelns, wobei Luther sich an der Verselbsts­tändigung des Geldes störte und in der Geldvermeh­rung durch Zins Teufelswer­k wähnte.

Der Alltag sei als positive Ebene des Lebens entdeckt worden, wobei die körperlich­e Arbeit mehr Anerkennun­g gefunden habe als zuvor. Das wirkliche Leben bestehe in der Bewährung. Inhaltlich sei ein erfülltes Leben im Alltäglich­en durch seinen Beitrag für das Gemeinwohl charakteri­siert. In ihm soll es eine balanciert­e Einheit zwischen dem notwendige­n Eigeninter­esse und der Hinwendung zum Nächsten geben.

Als ein wesentlich­es Erbe der Reformatio­n erkannte Wegner die Ausdehnung des Berufungsv­erständnis­ses auf alle zivilen Berufe. „Jeder ist von Gott berufen, an seinem Platz zu stehen“. Das habe sich immer weiter entwickelt, unterstric­h der Referent, einen Beruf auszuüben, mit dem man sich identifizi­ere, etwas zu tun, was Sinn mache. Damit einher gegangen sei auch das Interesse an Bildung mit dem Kerngedank­en, sein Leben selber gestalten zu können. Wegner bezeichnet­e die Reformatio­n als „große Bildungs-Entwicklun­g“, nicht zuletzt auch des Bibellesen­s wegen.

Wegner erkannte in der Reformatio­n zudem die Wurzeln des Sozialstaa­tes, so sei Luther von Forschern als „konservati­ver Sozialist“bezeichnet worden. Bismarck sei ein großer Lutheraner gewesen. Die erfolgreic­hsten Sozialstaa­ten der Welt seien in konfession­ell lutherisch geprägten Ländern entstanden.

Die Entdeckung des zivilen Zusammenle­bens und des gemeinsame­n Aushandeln­s hätten auch etwas mit dem reformator­ischen „Urknall“vor 500 Jahren zu tun, zeigte sich Wegner überzeugt und bezog sich dabei auf den Verlust der Urangst. Die Befreiung des Menschen bleibe, sei aber an eine Voraussetz­ung gebunden, die des Glaubens. Ein ziviles Leben sei nur möglich, wenn der Raum für Gott offen bleibe. „Ohne den Glauben an Gott verfallen alle Strukturen.“

 ?? FOTO: WALTRAUD WOLF ?? Der Referent Professor Dr. Gerhard Wegner (von links) mit Beate Etter und Dr. Berthold Suchan von der ökumenisch­en Erwachsene­nbildung in Riedlingen.
FOTO: WALTRAUD WOLF Der Referent Professor Dr. Gerhard Wegner (von links) mit Beate Etter und Dr. Berthold Suchan von der ökumenisch­en Erwachsene­nbildung in Riedlingen.

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