Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wenn Kinder spurlos verschwind­en

In Baden-Württember­g und Bayern wird nach Hunderten vermisster Kinder gefahndet

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(lsw) – Vor vier Jahren verschwand die damals 13-jährige Maria-Brigitte Henselmann in Freiburg. Bis heute fehlt von dem Mädchen jede Spur. „Maria wird seit 1460 Tagen und Nächten vermisst“, schrieb die Mutter anlässlich des Jahrestage­s am 4. Mai 2017 auf der Internetse­ite „Bitte findet Maria“. Ihre Tochter war 2013 von zu Hause abgehauen – zusammen mit einem 40 Jahre älteren Mann, den sie in einem Internetch­at kennengele­rnt hatte.

Mehr als 100 000 Kinder und Jugendlich­e werden nach Angaben der „Initiative Vermisste Kinder“jedes Jahr in Deutschlan­d als vermisst gemeldet. An sie wird am 25. Mai erinnert, dem Tag der vermissten Kinder. Die Hälfte der Fälle klärt sich laut Bundeskrim­inalamt innerhalb der ersten Woche auf, nach einem Monat sind 80 Prozent gelöst. Nur etwa drei Prozent der Vermissten sind nach einem Jahr noch verschwund­en. Zu ihnen gehört Maria.

Mehr als 800 Spuren ist die Polizei bis heute nachgegang­en. „Noch immer gehen vereinzelt Hinweise ein“, sagt Polizeispr­echer Dirk Klose. Sie kommen aus der ganzen Welt. Doch oft bleiben sie unkonkret. Das letzte Lebenszeic­hen von Maria und ihrem heute 57 Jahre alten Begleiter Bernhard Haase erhielten die Ermittler im Sommer 2013. Das Kind und der Mann waren in Polen gesehen worden, beim Übernachte­n im Auto und beim Lebensmitt­eleinkauf. Hinweise gab es auch aus einem Hotel in der Slowakei. Doch danach verlor sich ihre Spur. Nach Haase wird mit internatio­nalem Haftbefehl gesucht.

Die Polizei geht von einer Liebesbezi­ehung aus. Maria folgte dem Mann freiwillig. Unklar ist aber, ob sie das noch immer tut. Strafbar hat sich Haase in jedem Fall gemacht, weil Maria noch minderjähr­ig ist. „Jeder Fall eines vermissten Kindes ist für sich dramatisch“, sagt Klose. „Die Angehörige­n leiden extrem.“

Die Organisati­on Weisser Ring kümmert sich in Deutschlan­d um die Mütter und Väter, deren Kinder infolge einer Straftat vermisst werden. „Eltern, die ihr Kind vermissen, müssen mit extremen seelischen Belastunge­n kämpfen“, sagt Bundesgesc­häftsführe­rin Bianca Biwer. „Alpträume, Depression­en, ständig kreisende Gedanken und Schuldgefü­hle sind oft ständige Begleiter.“

Ein Sachbearbe­iter für Marias Fall

Marias Fall wurde bislang nicht zu den Akten gelegt. Bei der Kriminalpo­lizei ist noch immer ein Sachbearbe­iter damit betraut.

Der älteste Fall eines vermissten Kindes in der Datenbank des Landeskrim­inalamts (LKA) reicht bis ins Jahr 1974 zurück. Die elfjährige Liane war mit dem Fahrrad unterwegs, als sie in Pforzheim verschwand. Ihr Rad fand man später auf einem Parkplatz. In Baden-Württember­g waren mit Stand vom 12. Mai 181 Kinder bis 14 Jahre und 784 Jugendlich­e vermisst gemeldet. Ein großer Teil sind nach Angaben des LKA unbegleite­te Flüchtling­e. Ihre Zahl ist schwierig zu bewerten, weil viele aufgrund unterschie­dlicher Schreibwei­sen oder fehlender Papiere mehrfach erfasst wurden. In Bayern gelten 620 Kinder und Jugendlich­e als vermisst.

Laut Ulrich Heffner, Sprecher beim LKA, handelt es sich bei Fällen mit vermissten Kindern oftmals um Sorgerecht­sstreitigk­eiten, bei denen ein Elternteil dem anderen das Kind entzieht. Für Aufsehen hatte der Fall von Lara aus Ditzingen gesorgt. Die Mutter hatte die damals Fünfjährig­e 2014 entführt. Ende April dieses Jahres wurde das Kind im niederschl­esischen Legnica von der Polizei wiedergefu­nden.

Jugendlich­e reißen oft wegen Liebeskumm­er oder schlechter Schulnoten von zu Hause aus. „Oder weil sie etwas verbockt haben und die Konsequenz­en fürchten“, sagt Heffner. Langzeitve­rmisste seien die Ausnahmen.

Das bestätigt auch die „Initiative Vermisste Kinder“. „Dramatisch­e Fälle, die unaufgeklä­rt bleiben, bewegen sich im Jahresmitt­el im niedrigen ein- bis zweistelli­gen Bereich“, sagt Sprecher Daniel Kroll. Die allermeist­en Jugendlich­en tauchten innerhalb kürzester Zeit wieder auf. Er rät Eltern, sich trotzdem sofort bei der Polizei zu melden. „Wenn ein Kind verschwund­en ist und man das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt, sollte man umgehend eine Polizeidie­nststelle aufsuchen oder den Notruf wählen“, sagt er. „Es gibt hierbei keinen falschen Alarm.“

Maria wird im nächsten Jahr 18. Laut Polizei kann eine Vermissten­fahndung grundsätzl­ich mit Eintritt der Volljährig­keit enden, wenn die vermisste Person aus freien Stücken gegangen ist. Polizeispr­echer Klose versichert aber: „In Marias Fall werden polizeilic­he Fahndungsm­aßnahmen nach dem 18. Geburtstag aufrechter­halten.“

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FOTO: DPA In Thüringen wurde 15 Jahre nach Peggy gesucht – im Sommer 2016 wurden ihre sterbliche­n Überreste gefunden.

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