Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Der sensationelle Urahn aus Südeuropa
Tübinger Forscher: Letzter gemeinsamer Vorfahr von Mensch und Affe stammt doch nicht aus Afrika
- Es ist eine These, aber eine, die bereits jetzt für Aufregung bis in die USA sorgt: Ein 16-köpfiges Forscherteam unter der Leitung der Tübinger Professorin Madelaine Böhme hat eine neue Theorie zum Urspung des Menschen aufgestellt. Die Forscher glauben, das Bindeglied zwischen Affen und Frühmenschen gefunden zu haben. „Wir glauben, der letzte gemeinsame Vorfahre von Affen und Menschen lebte nicht in Ostafrika, sondern im östlichen Mittelmeerraum“, sagte Böhme am Montag in Tübingen. Das wäre eine wissenschaftliche Sensation. USMedien wie die „New York Times,“die „Washington Post“und der Discovery Channel haben Interesse an der Arbeit aus Tübingen angemeldet.
Umstrittene Frage
Wann haben sich die Stammbäume von Mensch und Affe getrennt? Diese Frage gehört bis heute zu den großen und umstrittenen. Bislang gilt als wichtigste Theorie die „East Side Story“. Demnach entwickelten sich Menschen als eigenständige Art vor fünf bis sieben Millionen Jahren im Osten Afrikas. Eine solche Abspaltung von einem Stammbaum wird durch einschneidende Ereignisse ausgelöst, die einen genetischen Austausch von Tieren derselben Art über einen längeren Zeitraum verhindern. So entsteht eine neue Gattung.
Im Falle Ostafrikas sollen das nach derzeit gängigen Theorien klimatische und geologische Veränderungen gewesen sein. Daran gibt es jedoch Zweifel. Unter anderem, weil diese Veränderungen einen genetischen Austausch der Gattungen untereinander nicht verhindert hätten. Deshalb habe sich eigentlich keine komplett eigene Art entwickeln können, glauben Böhme und ihr kanadischer Kollege David Begun.
Die „East Side Story“
Fundstücke aus Ostafrika galten bislang als Belege für die „East Side Story“. So wurde 2006 im Tschad der Schädel eines Sahelanthropus gefunden. Er wurde bislang als letzter gemeinsamer Urahn von Affe und Mensch gewertet.
Stimmt die These der Tübinger Forscher, ist dagegen „El Graeco“der erste direkte Vorfahre des Menschen. Nach ihm entwickelten sich Affe und Mensch nicht mehr gemeinsam, beide wurden zu zwei verschiedene Arten. „El Graeco“war wohl etwa 40 Kilogramm schwer, ob er aufrecht lief, ist unklar.
Böhme und ihre Kollegen stützen ihre „West Side Story“auf mehrere Indizien. Zum einen haben sie ältere Fossilien mit neuen Methoden untersucht: einen Unterkiefer des „Graecopithecus freybergi“aus einer Grabung bei Athen und einen Zahn dieses Frühmenschen aus Bulgarien. Beide wurden mit einem Magnetresonanztomographen (MRT) durchleuchtet. Dabei zeigte sich: Die Zahnwurzeln eines Backenzahns waren fast verschmolzen und zueinander gekrümmt. Affen haben zwei auseinanderstrebende Zahnwurzeln, Menschen nur eine. Das spricht aus Sicht der Forscher dafür, dass „El Graeco“eben jenes Lebewesen war, das am Anfang der eigenständigen Entwicklung des Menschen steht.
Als weitere Belege werten die Wissenschaftler Staub, den sie an den Fundstellen der Fossilien entdeckten. Dieser stamme aus einer Wüste, die vor rund sieben Millionen Jahren in Nordafrika entstand. Sie wäre für Menschenaffen einige Hunderttausend Jahre unpassierbar gewesen. Deshalb spalteten sich die genetisch eigenständigen Frühmenschen vom Stammbaum der Affen ab – so die Theorie.
Ein weiteres Indiz: Zum ersten Mal konnten die Tübinger Forscher Savannengräser in Europa nachweisen. Sie glauben, dass diese trockene Landschaft „El Graecos“Heimat war. Menschenaffen hätten dort aufgrund ihres Stoffwechsels nicht überleben können.
Die neue Theorie wurde am Montag im Fachjournal „Plos one“veröffentlicht. Böhme: „Es wird viel Widerspruch geben, aber auch viel Zuspruch – von jenen Kollegen, die schon immer Zweifel an der bisherigen Theorie hatten.“Denn Böhme ist nicht allein mit ihren Vorbehalten gegen die Ostafrika-These. „Die Aufspaltung der Hominiden-Vorfahren des Menschen und der Menschenaffen ist schlecht dokumentiert“, sagt Jean-Jacques Hublin vom MaxPlanck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig der Nachrichtenagentur dpa. Er ist nicht an der Studie beteiligt. „Es ist nicht das erste Mal, dass ein Vorkommen des Ersteren im reichen Fossilienbericht Südeuropas vorgeschlagen wird.“