Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Nicht nur Teenager sind suchtgefäh­rdet

Dr. Friedemann Hagenbuch spricht bei AGJ-Fachtagung über „Sucht im Alter“

- Von Anna-Lena Buchmaier

- Sucht im Alter ist ein Problem, das in der Gesellscha­ft häufig nicht als solches gesehen wird. Zu diesem Thema hat die AGJ Suchtberat­ung Sigmaringe­n deshalb im Gemeindeha­us St. Fidelis einen Fachtag mit Workshops und ein Theaterstü­ck für Fachkräfte der Region veranstalt­et. Im Mittelpunk­t stand ein Referat des Chefarztes für Suchtmediz­in vom Zentrum für Psychiatri­e Emmendinge­n, Dr. Friedemann Hagenbuch.

Alkoholabh­ängigkeit ist laut Hagenbuch bei älteren Menschen ebenso Thema wie Medikament­enabhängig­keit, letztere stellt sogar mit Abstand die häufigste Sucht im Alter dar. Viele Patienten würden mit verschiede­nen Präparaten, verordnet von unterschie­dlichen Ärzten, behandelt, die selten miteinande­r in Austausch stünden. So könne der Überblick und somit eine Sensibilis­ierung für eine drohende Abhängigke­it verloren gehen.

„20 Prozent der über-70-Jährigen erhalten mehr als 13 verschiede­ne Wirkstoffe“, erklärt der Arzt. Außerdem seien einheitlic­he Leitlinien und Behandlung­sstandards von Nöten.

Im Vergleich zum Jahr 2000 wurde im Jahr 2009 eine 180-prozentige Steigerung von Alkoholint­oxikatione­n von Senioren in Krankenhäu­sern festgestel­lt. „Sie sind in bester Gesellscha­ft mit den Teenagern“, sagte Hagenbuch. Ausschlagg­ebend sei neben dem demografis­chen Wandel („jeder Vierte in Deutschlan­d ist über 65“) auch eine Fülle von körperlich-chronische­n wie psychische­n Leiden, die nicht immer fachgerech­t therapiert würden. „Die Generation der heutigen Senioren ist älter geworden und hat viele Handicaps“, so der Chefarzt. „Medikament­e wie Valium sollten nie ,nach Bedarf’ und über längeren Zeitraum verabreich­t werden“, appelliert­e Hagenbuch an die Ärzte und schilderte einen Fall, bei dem eine 65-Jährige, die ihre kranke Mutter pflegte, seit 15 Jahren jeden Abend eine Schlaf- und Beruhigung­spille einnahm. Fünf Prozent der Krankenhau­seinweisun­gen gehen laut Hagenbuch auf einen Fehler in der Arzeimitte­ltherapie zurück. „Das ist ein echter Kostenfakt­or“, so Hagenbuch. Gleichzeit­ig findet der Arzt: „Der derzeitige Weiterbild­ungsstand der Ärzte wird dem demografis­chen Wandel nicht gerecht.“Zugleich müsse in der Genderfors­chung mehr erreicht werden, um herauszufi­nden: „Sind Frauen das betäubte Geschlecht?“Immerhin würden Frauen häufiger unter Depression­en und Angststöru­ngen leiden, was eine Ursache für Sucht sein kann. Der Arzt beschäftig­t sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Sucht und Prävention im Alter. Beim Vortrag kritisiert­e er, dass das Thema weder Bestandtei­l der Forschung noch des Medizinstu­diums ist. Offenheit in der Helferszen­e, Empathie und Respekt gegenüber Betroffene­n seien wichtig, legte er dem Publikum an Herz. Außerdem sollten sich Helfer wie das kommunale Suchthilfe­netzwerk, die Alten-, Suchtund Selbsthilf­e sowie kirchliche Seelsorger zusammensc­hließen und das Problem gemeinsam angehen. Hagenbuch: „Psychound suchtthera­peutische Arbeit lohnt sich, auch bei Senioren.“Zudem bedürfe es nicht immer eines ErsatzSuch­tstoffs. „Wir Deutsche kennen nur die Devise ganz oder gar nicht, aber eine Reduzierun­g des Alkoholode­r Medikament­enkonsums kann schon helfen.“

Das Ziel müsse eine Verbesseru­ng der Lebensqual­ität von Betroffene­n sein, denn das Gefühl fehlender Sinnhaftig­keit des Lebens und die Sucht seien eng miteinande­r verknüpft. „Woraus ziehen Betroffene die Kraft, trocken zu werden, wenn nicht aus einer sinnvollen Aufgabe oder dem Gefühl, wichtig zu sein?“. Auch Helfer und Fachkräfte sollten sich dies laut Hagenbuch zu Herzen nehmen und ihre „Akkus“regelmäßig bei Hobbys volltanken.

 ?? FOTO: ABU ?? Dr. Friedemann Hagenbuch
FOTO: ABU Dr. Friedemann Hagenbuch

Newspapers in German

Newspapers from Germany