Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Geheimplan Rauhe Alb
Die Bayreuther Festspiele werden heute mit „Die Meistersinger von Nürnberg“eröffnet – Über die abenteuerliche Entstehung des Stückes
D ass Wagners Oper „Meistersinger“vollendet wurde, verdankt die Welt auch einem Winzer: Johann Weißheimer II., Besitzer des Hofguts Steinmühle bei Worms, größter Steuerzahler in Rheinhessen, Bürgermeister und Abgeordneter in der Ständekammer des Großherzogtums in Darmstadt. Er finanzierte Wagner in dessen kritischstem Moment.
Wagner war mit der Lieferung der „Meistersinger“so sehr im Verzug, dass sein Mainzer Verleger Schott die Zahlungen einstellte, schließlich arbeitete Wagner an der Oper von 1845 bis 1867. Der Text war 1851 fertig, Wagner las ihn in der Verleger-Villa vor. Um den Klavierauszug der entstehenden Partitur anzufertigen, hatte sich Wagner eine willige Hilfskraft ausgeschaut: Wendelin Weißheimer, jüngster Sohn Johann Weißheimers, der mit 20 Jahren Kapellmeister in Mainz wurde. Über den Sohn kam Wagner ans Geld des Vaters.
Wendelin war von Wagner begeistert, als er mit 13 Jahren dessen Tannhäuser-Ouvertüre hörte. Zur ersten Begegnung kam es in Zürich. „Am 13. Juli 1858 fuhr ich über Stuttgart, Ulm und Friedrichshafen an den Bodensee.“Am 15. Juli, 9 Uhr morgens erkannte Weißheimer Wagner im weitläufigen Garten der Wesendonck-Villa, wo „in einer Laube ein Herr beim Frühstück saß – Richard Wagner. Beim Eingang traten die erwarteten Hindernisse ein. Aus dem Hause rief es: Herr Wagner ist nicht zu sprechen. Und aus dem Keller: Er ist verreist.“
Tägliche Treffen im „Café Paris“
Aus dem Treffen, das dann zwei Tage später erfolgte, wurde ein reger Austausch über Jahre hinweg. 1862 hatte sich Wagner für die Komposition der Meistersinger in Biebrich, auf der Mainz gegenüberliegenden Rheinseite, in einer Villa eingemietet. Nahezu täglich traf er sich mit Weißheimer, meist im „Café Paris“am Theater. Es war eine Beziehung, die ganz im Umfeld und im Zeitrahmen der Komposition der Meistersinger steht und die Weißheimer in seinem Buch „Erlebnisse mit Richard Wagner, Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen“als freundschaftlich und herzlich schildert. Er wehrt sich gegen warnende Stimmen, Wagner wolle ihn ausnutzen. Weißheimer hat Wagner in den Jahren unterstützt, als die Tantiemen des Verlegers ausblieben. Er überredete den Vater, Wagners Schulden zu übernehmen, damit die Oper vollendet werden kann. Er veranstaltet ein Sonderkonzert für Wagner, das aber finanziell zum Fiasko wird. Wagner reiste dann nach Wien, um dort für eine Aufführung von „Tristan und Isolde“zu werben, vergeblich, er verschuldete sich nur noch mehr und floh, um nicht im Schuldturm zu landen.
Ihren Höhepunkt hat diese dramatische Entwicklung in Stuttgart. Von dort erreicht Weißheimer am 29. April 1864 Wagners Telegramm: „Bin einige Tage hier, Hotel Marquardt und bitte um Ihren Besuch“. Weißheimer fährt los und findet Wagner erschüttert vor: „Ich bin am Ende – ich kann nicht weiter – ich muss irgendwo von der Welt verschwinden, können Sie mich davor nicht bewahren.“Im Vorwort schreibt Weißheimer, ihm gehe es darum, die Personen so zu schildern, dass man sie „womöglich lebend vor sich sehe“. Das gelingt fraglos, und so kann man sich an dieser Stelle fragen, ob Wagner nicht zu dick aufgetragen und Weißheimer so verwirrt hat, dass der Groschen nicht fällt. Schließlich sucht Wagner jemand, der die Schulden übernimmt. Aber Weißheimer ist überwältigt, er meint, er dürfe Wagner, der in Tränen vor ihm steht, nicht im Stich lassen. Er will „mit verschwinden“.
Fluchtziel zum Untertauchen ist die Rauhe Alb. So wie Weißheimer das schreibt, ist klar, dass er die Gegend nicht kennt. Lexika um 1850 verwenden den Begriff großflächig, da reicht die Rauhe Alb von der Brenz bis zur Lauchert. Später fällt die Ostalb weg. Man liegt nicht falsch, das Verbreitungsgebiet der Ausgabe Laichingen der „Schwäbischen Zeitung“samt dem ehemaligen Truppenübungsplatz der Rauhen Alb zuzuschlagen. Nur Google ist präziser und identifiziert die Rauhe Alb mit dem Skilift bei Feldstetten.
Vielleicht hat Wagner auch nur den schaurigsten Namen auf der Landkarte gesucht, um seine „pekuniären Drangsale“zu inszenieren. Das „Marquardt“, 1857 am Schlossplatz eingeweiht, war die erste Adresse in Stuttgart. Zum Frühstück werden „die schönsten englischen Beefsteaks in Sauce“aufgetragen. Ob derlei auf der Alb verfügbar gewesen wäre, ist angesichts der Ausmalung karger Älbler-Kost durch den Laichinger Lehrer und Volkskundler Christian Schnerring (1870-1951) zu bezweifeln.
Aber zum Äußersten kam es nicht. An dieser Stelle trat in Wagners Leben ein Effekt ein, den man sonst aus Tragödien kennt, oder von Woody Allen. Anstelle der Katastrophe kommt das Glück. Am 2. Mai taucht im Hotel ein Gesandter Ludwigs II. auf und lädt Wagner nach München ein. Der König, frisch an der Macht, will für ein sorgenfreies Künstlerleben sorgen: „Alles, was Wagner wolle, werde zur Verfügung gestellt“. Am 3. Mai reist Wagner ab. Der Gesandte zahlt das Hotel, Wagner folgt ins Abteil Erster Klasse. Eine Fahrkarte kauft er nicht. Die besorgt Weißheimer, natürlich auf eigene Kosten, und wirft sie durchs Fenster, als der Zug anfährt.
Mit diesem Spurt ist seine Rolle in Wagners Leben beendet. Es folgt noch eine Begegnung bei der Uraufführung der „Meistersinger“in München. Wagner trifft ihn bei der Probe und ruft „mit einem wehmütigen Stimmklang zweimal: Weißheimer! Weißheimer!“Dann weist er ihn auf ein Motiv in der Einleitung zum letzten Akt hin, bei dem er „sich entschlossen habe, seiner zu gedenken“. Weißheimer wirft einen letzten Blick auf Wagner, als der in der Königsloge sitzt: „Ruhmgekrönt saß er während der ersten Aufführung, Sonntag den 21. Juni 1868, neben seinem Königlichen Freunde. Infolge seines auffallend veränderten Wesens hatte ich keine Lust mehr zu weiteren persönlichen Begegnungen.“
Sein Buch erschien dann 1898, hat gleich drei Auflagen und viele Besprechungen erfahren, wobei die Rezensenten spürten, dass ein WagnerFan schreibt. Aber es ist keine Heiligsprechung, dazu ist es zu konkret. Und so gehen Wagners Witwe Cosima und Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain gegen Weißheimer vor.
Geldnot und Geldgier
Der zitiert zahlreiche Wagner-Briefe, er druckt sie in Faksimile ab („liebster Wendelin“, „lieber Freund“). Er gibt Alltagsgeschichten zum Besten: etwa dass die besagten Stuttgarter Beefsteaks samt Sauce auf dem Oberschenkel des Tischnachbarn landen. Oder wie Wagner ihm beim Komponieren zuruft: „Stören Sie jetzt nicht, ich bin in der Brunst.“Und vor allem, dass die Geldnot und Geldgier so unverblümt aufscheinen – all das veranlasste Bayreuth zu Gegenmaßnahmen. Der Wagner-Biograf Carl Friedrich Glasenapp (1847-1915), alter Villa-Wahnfried-Gast, wurde instrumentalisiert, „Weißheimers sehr sonderbares Buch“zu diskreditieren. Aber dem in Riga ansässigen Glasenapp – seine 6-bändige Wagner-Biografie erschien 1876 bis 1911 – stand für die Entstehungszeit der Meistersinger nur Weißheimers Buch als Quelle zur Verfügung. So übernimmt er kapitelweise den Text, aber frisiert ihn um. Weißheimer ist empört. Er fordert 1901 vom Deutschen Reichstag die Novellierung des Gesetzes über das Urheberrecht.
Ein Beispiel für Glasenapps Tendenz ist eine Episode aus Biebrich. Weißheimer zieht mit Wagner in die Spielbank. „Ich schlug ihm vor, ich wolle einige Male den kleinsten zulässigen Einsatz auf die Nummern setzen, welche er angeben würde. In der Tat kamen viermal die von ihm bezeichneten Nummern heraus. Da jedesmal der 35-fache Betrag ausbezahlt wurde, konnte ich ihm schon nach wenigen Minuten das Sümmchen von einigen hundert Gulden einhändigen.“In Weißheimers Buch erhält Wagner das Geld. Bei Glasenapp ist es umgekehrt. Die Vorstellung, Wagner habe ihm Geld geschenkt, war für Weißheimer ein echter Brüller.