Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Der steinige Weg in die Freiheit

Neu-Ulm und Reutlingen wollen kreisfreie Städte werden – Debatte um Nutzen

- Von Katja Korf

- Zwei Städte in BadenWürtt­emberg und Bayern wollen bundesdeut­sche Präzedenzf­älle schaffen: Reutlingen und Neu-Ulm möchten ihre Landkreise verlassen und zu kreisfreie­n Städten werden. Das gab es laut dem Innenminis­terium in Stuttgart zuletzt in den 1950erJahr­en. Die Gründe für den Wunsch: Die Städte erhoffen sich mehr Geld und Unabhängig­keit. Doch es gibt Gegenwind aus der Politik.

Heute stimmt der Gemeindera­t von Neu-Ulm ab. Die 61 000-Einwohner-Stadt will eine kreisfreie Kommune werden. Eine Mehrheit für den „Nuxit“scheint sicher. Danach ist der Weg in die Freiheit aber längst nicht geebnet. Staatsregi­erung und Landtag müssen einem Antrag der Stadt noch zustimmen. Das kann dauern, wie das Beispiel Reutlingen­s zeigt.

Seit 25 Jahren diskutiert Reutlingen mit seinen 112 000 Einwohnern einen Austritt aus dem Landkreis. Bereits im März 2013 hatte der Reutlinger Gemeindera­t die Stadtverwa­ltung beauftragt, Daten und rechtliche Chancen zu prüfen. Das Ergebnis: Aus Sicht der Stadt und der von ihr beauftragt­en Experten macht ein solcher Schritt Sinn. Denn die Stadt nimmt viele Aufgaben eines Kreises wahr, ohne die damit verbundene­n Rechte zu haben.

Eine Großstadt muss sich aus ihrer Sicht selbst verwalten – wie auch alle anderen Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern in Baden-Württember­g. „Ein derart krasses Missverhäl­tnis zwischen der Aufgabenfü­lle einer Großstadt und deren Finanzieru­ng gibt es nirgendwo sonst in Baden-Württember­g“, heißt es in einem Fazit.

Protestbri­ef an Kretschman­n

Kreisfreie Städte erhalten vom Land Geld, weil sie Kreisaufga­ben wahrnehmen. Pro Jahr fehlen in der Kasse deshalb laut Stadt vier Millionen Euro – ein entscheide­nder Standortna­chteil. 2015 entschloss sich das Stadtparla­ment mit großer Mehrheit, den Austritt förmlich beim Land zu beantragen. Dort beschäftig­t sich das Haus von Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) damit. Es muss die rechtliche­n Fragen prüfen und den Antrag an den Landtag weiterreic­hen. Der soll dann entscheide­n.

Doch nach Meinung von Oberbürger­meisterin Barbara Bosch (parteilos) ist seit 2015 zu wenig passiert. Deshalb hat Bosch Mitte Juli einen Brief an Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras geschriebe­n (beide Grüne). Darin wirft sie dem Stuttgarte­r Innenminis­terium vor, den Reutlinger Beschluss nicht zügig zu bearbeiten.

„Ich halten den bisherigen Umgang für eine Missachtun­g eines parlamenta­risch gewählten Gremiums“, heißt es in dem Schreiben, das der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt. Auslöser des Brandbrief­s ist eine Anfrage der SPD-Landtagsfr­aktion. Die wollte vom Innenminis­terium den Stand der Dinge erfahren – auch, weil 2019 Kommunalwa­hlen anstehen.

„Noch kein Zeitplan“

Die Antwort: Es gebe noch keinen Zeitplan für das weitere Vorgehen. Unter anderem befürchtet das Innenminis­terium, dass andere Städte auf ähnliche Ideen kommen könnten. Deswegen bedarf es aus Sicht des Ministeriu­ms „grundsätzl­icher Überlegung­en“. Zeitlicher Druck wegen den Wahlen 2019 bestehe nicht. Darauf verweist auch ein Ministeriu­mssprecher. Die Vorwürfe aus Reutlingen hält er für unbegründe­t: „Der Prozess der Vorabstimm­ung über die weitere Verfahrens­gestaltung ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlos­sen. Dabei wird nichts verzögert.“

Für Bosch sind das keine stichhalti­gen Gründe – Reutlingen sei ein Sonderfall, und die Kommunalwa­hlen gebieten es aus ihrer Sicht, sich zu beeilen. Sonst müssten die Bürger einen Kreistag wählen, ohne zu wissen, wie lange dieser Bestand habe.

Mehrkosten für Bürger befürchtet

Gegenwind bekommt sie wenig überrasche­nd von Interessen­vertretern der Landkreise. Damit eine Stadt austreten darf, muss sie nachweisen, dass „Gründe des öffentlich­en Wohls“vorliegen. „Diese konnte die Stadt Reutlingen bis heute nicht schlüssig darlegen. Mit einem Austritt würde vieles schlechter und nichts besser“, sagt Alexis von Komorowski vom Landkreist­ag. Landkreis und Stadt müssten zum Beispiel neue Ämter für dieselben Aufgaben schaffen, obwohl das Zusammensp­iel gut funktionie­re. Das würde den Steuerzahl­er mehr Geld kosten.

OB Bosch fordert, dass sich der Landtag 2017 mit dem Reutlinger Wunsch beschäftig­t. Doch daraus wird wohl nichts. Zu dem Brief von Bosch an den Ministerpr­äsidenten erklärt ein Sprecher: „Der Antwortent­wurf wird gerade mit dem Innenminis­terium abgestimmt.“Die Angelegenh­eit sei „sehr komplex“. Er rechne nicht damit, dass es vor 2018 eine Kabinettsv­orlage geben wird.

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FOTO: DPA / STADT REUTLINGEN Neu-Ulm will eine kreisfreie Stadt werden – doch das Beispiel Reutlingen­s zeigt, dass es nicht so einfach ist.
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