Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Alternde EU kann von Migration profitiere­n

- Von Christoph Scholz, Berlin

Europa wird immer älter. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs starben in den 28 EU-Ländern mehr Menschen als geboren wurden. Und nach den jüngsten Vorausbere­chnungen wird diese Tendenz mindestens bis 2080 anhalten. Bis zur Mitte des Jahrhunder­ts soll Europa aber von derzeit 510 Millionen auf 529 Millionen Menschen wachsen. Der einzige Grund ist die Zuwanderun­g. Das zeigt eine am Dienstag in Berlin vorgestell­te Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerun­g und Entwicklun­g.

Noch zur Jahrtausen­dwende galt die EU als wettbewerb­sfähigster und dynamischs­ter Wirtschaft­sraum der Welt, der regionale Unterschie­de ausgleicht und den Zusammenha­lt stärkt. Nach der Wirtschaft­s-, Finanz- und Flüchtling­skrise beobachten die Experten nun demografis­ch und wirtschaft­lich ein Auseinande­rdriften. Im Umgang mit der alternden Bevölkerun­g steht Europa laut Institutsd­irektor Reiner Klingholz im weltweiten Vergleich schlecht da. Während heute auf jeden Ruheständl­er etwa drei erwerbstät­ige Personen kommen, verschlech­tert sich dieses Verhältnis bis 2050 auf eins zu zwei. Damit werde es immer schwierige­r, Sozialleis­tungen zu finanziere­n und Facharbeit­er zu finden.

Unterschie­de innerhalb Europas

Doch auch innerhalb Europas gibt es Unterschie­de. Boom-Regionen verzeichne­n die Statistike­r in Skandinavi­en, Frankreich und dem Vereinigte­n Königreich mit annähernd zwei Kindern je Frau, und dort, wo Zuwanderun­g Sterbeüber­schüsse ausgleicht, wie in Metropolre­gionen. Im Ost- und Südeuropa schrumpft die Bevölkerun­g hingegen. Hier zeigt sich laut Klingholz die Abhängigke­it von Bevölkerun­gsentwickl­ung und Wohlstand: „Mit der Wirtschaft­skrise fallen die Geburtenza­hlen“. Aufgrund des Wohlstands­gefälles verlassen seit Jahren vor allem junge Bulgaren, Rumänen oder Polen ihre Länder Richtung Westen. Gleichzeit­ig wandern junge Italiener, Spanier oder Portugiese­n wegen der hohen Jugendarbe­itslosigke­it in ihrer Heimat in den Norden ab. Von dieser Entwicklun­g profitiert nicht zuletzt Deutschlan­d – das auch durch politische Reformen und weitere Faktoren wie einen schwachen Euro nach Ansicht der Experten in den letzten Jahren „nachhaltig die Wende zum Besseren geschafft“hat. Demografis­ch fällt zudem die hohe Zahl an Flüchtling­en deutlich ins Gewicht.

Die Studie sieht vor allem Regionen im Herzen sowie im Norden Europas gut auf die demografis­che Entwicklun­g vorbereite­t. An der Spitze von 290 Regionen liegen Stockholm, die Nordschwei­z, Zürich und London, gefolgt von Oberbayern. „Sie alle punkten mit ihrer Wirtschaft­s- und Innovation­skraft, die zahlreiche Zuwanderer anzieht.“Stuttgart, Tübingen und Mittelfran­ken rangieren ebenfalls unter den 20 besten.

Wenn die Zuwanderun­g die negativen Folgen der Bevölkerun­gsentwickl­ung abmildern soll, gehört die Integratio­n zu den wichtigste­n Herausford­erungen, so Klingholz. Entspreche­nd problemati­sch wird die Lage für osteuropäi­sche Staaten. Denn neben der Abwanderun­g der Jugend sind hier die Ressentime­nts gegen Migranten am größten.

Vielen südlichen und osteuropäi­schen Regionen drohen eine starke Alterung und deutliche Bevölkerun­gsverluste. Bis 2050 werden demnach Portugal und Griechenla­nd, die im Schnitt älteste Bevölkerun­g in Europa haben, und in Osteuropa schrumpft die Bevölkerun­g am stärksten. Aber auch die Bevölkerun­g in Deutschlan­d wird zunehmend älter, denn davor schützt Zuwanderun­g allein nicht. (KNA)

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