Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Alles auf Anfang

Verunsiche­rung und neue Chance: Wie ein Ortswechse­l das Leben verändert

- Von Birgit Kölgen

Fortziehen, in ein anderes Leben wechseln: Jeder flirtet mal mit dem Gedanken. Junge Leute planen cool ein Studienjah­r oder das Praktikum im Ausland. Aber sie kommen dann doch gern zurück. Die Veränderun­g ist uns nicht geheuer. Anders als Amerikaner, für die es normal ist, für einen Job den Bundesstaa­t zu wechseln, zögern wir, das Vertraute einfach hinter uns zu lassen. Bis zu elf Millionen Deutsche ziehen pro Jahr um, vorzugswei­se zur Sommerzeit. Das Leben erscheint vielleicht leichter als sonst, für manche geht die Schulzeit zu Ende, andere wechseln den Job oder gehen in Ruhestand. Doch die meisten bleiben jedoch in sicherer Nähe. Nur etwa jeder Vierte geht dauerhaft an einen anderen Lebensort und erfindet sich neu.

Umziehen ist nicht nur eine körperlich­e Anstrengun­g. Auch die Psyche hat Stress. Denn zunächst einmal werden sichere Strukturen zerstört. Man verlässt ein Zuhause, Nachbarn, Freunde, Kollegen, den Apfelbaum im Garten. Man gibt Rituale auf. Nie spürt man Geborgenhe­it deutlicher als im Moment des Abschieds. „Partir, c’est mourir un peu“, Aufbruch ist ein kleines Sterben, heißt es zu Recht in einem Gedicht des Franzosen Edmond Haraucourt von 1890.

Chance zum Aufräumen

Da müssen wir durch. Und es ist eine Chance, endlich aufzuräume­n und sowohl Gewohnheit­en als auch Dinge loszuwerde­n, die den Alltag blockieren. Ich bin zweimal in meinem Leben so weit fortgezoge­n, dass es einer Auswanderu­ng glich: von einer norddeutsc­hen Großstadt in eine schwäbisch­e Kleinstadt und nach 15 Jahren wieder zurück. Und ich habe dabei das Loslassen gelernt. Beim ersten Mal war das neue Haus noch nicht fertig, wir wohnten für eine Übergangsz­eit mit zehn Kisten voll Habseligke­iten in einer möblierten Ferienwohn­ung – und: Wir haben nichts ernsthaft vermisst. Als wir uns endlich einrichten konnten, waren wir sogar überrascht über das ganze eingelager­te Zeug, was wir so lange für unentbehrl­ich gehalten hatten.

Vielleicht habe ich deshalb nicht gezögert, bei der Rückkehr mindestens die Hälfte unserer Möbel, Geschirre, Bücher und dekorative­n Kleinigkei­ten zu verschenke­n oder zu entsorgen. Clevere Menschen mit mehr Geduld als ich hätten so manches davon verkauft und noch ein bisschen Geld damit verdient. Ich wollte es einfach loswerden, denn unsere neue Stadtwohnu­ng hat nur drei Zimmer. Und es war ungemein befreiend, jedes Ding, ob Vase oder Abendkleid, zu überprüfen: Brauche ich das wirklich? Würde ich es mir heute aussuchen? Die Antwort ist leichter, als man denkt, und lautet oft: Nein, das kann verschwind­en!

Auch die Relikte der Vergangenh­eit müssen nicht unbedingt bewahrt werden. Ich habe einen Koffer mit Kindheitse­rinnerunge­n gepackt: Hawaii-Puppe Rosi mit den echten schwarzen Haaren schlummert da neben der Schulfibel wie der Rest meiner Nostalgie. Die vergilbten Referate aus meiner Studienzei­t, nie mehr gelesen, sind vor dem Umzug endlich verschwund­en – genau wie Hunderte von Programmhe­ften vernierung­en. gessener Inszenieru­ngen.

Am Ende steht man in den kahlen Räumen mit den Bilderflec­ken an den Wänden und fühlt sich wie auf einer leeren Bühne. Die Schlüssel werden übergeben, der letzte Blick ist traurig. Doch schon im Auto auf dem Weg in die neue Welt entsteht dieses Hochgefühl: alles auf Anfang! Und dem Anfang wohnt, wie wir von unserem strapazier­ten, aber geliebten Hermann Hesse wissen, „ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“.

Alles neu entdecken

Man kommt an, man packt aus, man sortiert und dekoriert die Dinge, das Sofa steht schon da, die neuen Bücherrega­le wollen gefüllt werden. Man lässt Lieblingsm­usik spielen, lehnt die Lieblingsb­ilder erst mal an die Bodenleist­e und spürt das überwältig­end Neue. Denn das ist nicht nur eine Frage von Äußerlichk­eiten. Nach der ersten Nacht im neuen Zuhause, mit fremden Geräuschen von der Straße, erwacht man erstaunt und aufgeregt. Alles muss neu entdeckt und bestimmt werden. Wo gibt es die besten Brötchen? Wo kaufe ich Mineralwas­ser und Wein? Wann ist Markt auf dem Platz in der Nähe? Hat das Café an der Ecke schon morgens auf? Wie schmecken die Spaghetti Carbonara beim Italiener um die Ecke? Sind die Nachbarn nett? Und die neuen Kollegen? Wo gibt es einen Zahnarzt, einen Hausarzt? Fitnessstu­dio, Yoga-Schule?

Mein Mann und ich kehrten zwar zurück in die alte Heimatstad­t, erkannten vieles wieder, und doch waren wir selbst zu Fremden geworden. Selbst das Einwohnerm­eldeamt registrier­te uns als Neubürger – wegen der langen Abwesenhei­t hatte man uns aus den behördlich­en Systemen gelöscht. Auch kennt uns niemand mehr in dem Viertel meiner Jugend, die alte Stammkneip­e hat einen neuen Wirt. Anders als im ländlichen Gebiet grüßen die städtische­n Nachbarn freundlich, aber flüchtig. Kaum jemand nennt uns beim Namen, keiner kennt unsere Geschichte.

Das klingt schwierig, hat aber seinen Reiz. Es wird nichts von uns erwartet, denn wir spielen noch keine bestimmte Rolle. In einer fremden Umgebung hat der Mensch die Chance, sich noch einmal frei zu entwickeln, ein Reisender im eigenen Leben. Wie sagte schon Nietzsche: „... es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglic­hkeit habe.“Jederzeit könnte ich noch einmal umziehen.

 ?? FOTO: BARANQ/SHUTTERSTO­CK ?? Eine neue Wohnung ist wie ein neues Leben: Ein Umzug bedeutet, Altes hinter sich zu lassen – Liebgewonn­enes ebenso wie Belastende­s.
FOTO: BARANQ/SHUTTERSTO­CK Eine neue Wohnung ist wie ein neues Leben: Ein Umzug bedeutet, Altes hinter sich zu lassen – Liebgewonn­enes ebenso wie Belastende­s.

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