Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Mit Vorhaltung­en ist niemandem gedient“

Professor Wolfgang Seibel erforscht Behördenfe­hler mit tödlichem Ausgang

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STUTTGART - Wie konnte es zu Ereignisse­n wie dem Loveparade-Unglück kommen? Warum blieb die Mordserie des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s (NSU) so lange unentdeckt? Solchen Fragen will der Konstanzer Verwaltung­swissensch­aftler Professor Wolfgang Seibel auf den Grund gehen. Für seine Forschung zu schwerwieg­endem Verwaltung­sversagen erhält er in den kommenden fünf Jahren 610 000 Euro von der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft. Im Interview mit Katja Korf erläutert er, worum es geht.

Wie gehen Sie bei dem Projekt vor?

Wir werten vorhandene Dokumente aus und befragen Mitarbeite­r der beteiligte­n Behörden

Sagen die immer die Wahrheit – es geht ja um sehr brisante Themen …

Das ist in der Tat ein Problem. Wer hat wann was entschiede­n – das ist ja die Kernfrage. Je näher man der Quelle des Fehlers kommt, desto eher versuchen die Urheber, der Geschichte den eigenen Stempel aufzudrück­en. Das wichtigste Mittel gegen solche Verzerrung­en ist es, möglichst viele Beteiligte zu befragen. Daraus ergibt sich dann hoffentlic­h ein möglichst objektives Gesamtbild. Außerdem versuchen wir, uns so gut es geht unabhängig zu machen von Aussagen der Beteiligte­n. Deswegen werten wir parallel Dokumente aus. Oft gibt es öffentlich zugänglich­e Akten oder Protokolle, etwa aus den NSU-Untersuchu­ngsausschü­ssen. Außerdem bekommen wir erfahrungs­gemäß auch Interna zugespielt, wenn wir unsere Arbeit in Behörden beginnen.

Wollen Sie den Verwaltung­en Ihre Fehler vorhalten?

Nein, mit bloßen Vorhaltung­en wäre ja niemandem gedient. Es kommt eher darauf an, Mythenbild­ung zu verhindern und, vor allem, aus Fehlern zu lernen. Grundsätzl­ich kommt es in einem hoch entwickelt­en Land wie Deutschlan­d mit einer profession­ellen rechtsstaa­tlichen Verwaltung sehr selten vor, dass das Tun oder Unterlasse­n der öffentlich­en Verwaltung tödliche Folgen hat. Wenn es trotzdem passiert, ist es umso wichtiger, die Ursachen herauszufi­nden und nach Mustern zu suchen, also Regelmäßig­keiten, die uns dann auch in die Lage versetzen, Vorkehrung­en gegen Wiederholu­ngen zu treffen. Und was das betrifft, gibt es sicher Nachholbed­arf, sowohl in der Wissenscha­ft als auch in der Praxis von Politik und Verwaltung.

Warum geschehen solche Fehler?

Wenn wir das genau wüssten, müssten wir es nicht mehr erforschen. Aber wir kennen bestimmte Problemlag­en, die für die Verwaltung nicht einfach zu handhaben sind und in denen sie oft vor einem Dilemma steht. Ein Amtsarzt zum Beispiel untersucht einen psychisch kranken Menschen. Da geht es im Amtsdeutsc­h um das Risiko der Selbstoder Fremdgefäh­rdung. Nimmt er sich vielleicht das Leben, wird er zum Amokläufer? Die Verantwort­lichen haben in solchen Situatione­n oft das Gefühl: Wie ich es mache, mache ich es falsch. Entweder ich weise jemanden in die geschlosse­ne Psychiatri­e ein, übe also Zwang aus und setze mich dem Vorwurf der ungerechtf­ertigten Freiheitsb­eraubung aus. Oder ich verzichte auf Zwangsmaßn­ahmen, kann aber nicht ausschließ­en, dass diese Person sich selbst oder anderen etwas antut. Hier darf man die Verwaltung­sangehörig­en in den Gesundheit­sämtern oder Ordnungsäm­tern nicht allein lassen. Man kann ihnen auch dadurch Rückendeck­ung geben, dass man die Entscheidu­ngsproblem­e näher untersucht und dadurch auch ernst nimmt, mit denen sie im Alltag umzugehen haben.

Was sind weitere Ursachen?

Ein weiterer Risikofakt­or ist die Politisier­ung von Fachfragen der Verwaltung. Die Genehmigun­g der Loveparade in Duisburg 2010 zum Beispiel wurde politisch durchgeset­zt, obwohl die Mitarbeite­r der zuständige­n Genehmigun­gsbehörde ausdrückli­ch auf die entgegenst­ehenden Sicherheit­sbestimmun­gen hingewiese­n hatten. Und dieselben Politisier­ungseffekt­e haben bis heute eine Untersuchu­ng der Ursachen der Loveparade-Katastroph­e verhindert, die 21 Menschenle­ben gefordert hat. Die großen Parteien in NordrheinW­estfalen, also CDU und SPD, haben offenbar kein Interesse an einer solchen Untersuchu­ng, die auch die Verantwort­ung eigener Funktionst­räger offenlegen könnte. Hier geht es also aus Sicht der verwaltung­swissensch­aftlichen Forschung auch um eine Grundsatzf­rage: Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass Verwaltung­en entgegen der Rechtslage und fachlichem Rat Leben und körperlich­e Unversehrt­heit von Menschen aufs Spiel setzen? Wie kann es sein, dass die maßgeblich­en politische­n Instanzen an Ursachenau­fklärung und damit auch an Lerneffekt­en – also an Präventivw­issen – desinteres­siert sind?

Aber wenn eine Verwaltung geeignete Regeln hat, um so etwas zu verhindern, gibt es keine Fehler?

Das debattiere­n Wissenscha­ftler seit Jahren. Wie viele Schutzmech­anismen und -kontrollen lassen sich im Verwaltung­shandeln einbauen? Und was bleibt am Ende doch abhängig von der Verantwort­ung des Einzelnen? Ich selbst möchte die Bedeutung von Verantwort­ungsethik in der Verwaltung hervorhebe­n. Letztlich geht es darum, ob Verwaltung­sangehörig­e ein Bewusstsei­n für die Folgen ihres Tuns oder Unterlasse­ns zugunsten oder zulasten Dritter haben und ob sie bereit sind, sich diese Folgen zurechnen zu lassen.

Kann man das überhaupt lernen?

Ich bin davon überzeugt, dass wir als Lehrende unseren Studenten durchaus Wertbewuss­tsein mitgeben können. Die Bereitscha­ft, Verantwort­ung zu übernehmen, ist bei jungen Menschen sogar sehr ausgeprägt. Da stoßen solche Bemühungen in der Ausbildung auf offene Ohren. Diese Appelle sollte man allerdings mit Fakten untermauer­n können – etwa, indem man zeigen kann, was die positiven und negativen Konsequenz­en von Verwaltung­shandeln sein können.

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FOTO: DPA Gegenstand der Forschung sind auch mögliche Verfehlung­en der Behörden bei der Mordserie des NSU. Zehn Menschen, darunter die Polizistin Michèle Kiesewette­r, sind dem NSU zum Opfer gefallen.

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