Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Im Griff der Diktatur

Seit 100 Tagen befindet sich die Journalist­in Mesale Tolu aus Ulm in türkischer Haft – Familie und Freunde verzweifel­n zunehmend

- Von Ludger Möllers und Ariane Attrodt

- 15 Jahre Haft für Mesale Tolu? Der Schock sitzt tief bei Verwandten und Freunden, nachdem die türkische Staatsanwa­ltschaft am Freitag Gefängnis bis zum Jahr 2032 wegen „Terrorprop­aganda“und „Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation“gefordert hatte. „Und es gibt keine Beweise dafür“, sagt Baki Selcuk, er ist Sprecher des Solidaritä­tskreises „Freiheit für Mesale Tolu“. Am heutigen Dienstag sitzt Mesale Tolu genau 100 Tage im Gefängnis.

Seit dem 30. April ist in der Familie Tolu nichts mehr so wie vorher. Im Morgengrau­en jenes Tages nehmen türkische Spezialkrä­fte Mesale in ihrer Istanbuler Wohnung fest. Zunächst gibt es keine Angaben zu den Gründen. Später wird bekannt: Der Mutter eines zweijährig­en Sohnes, Serkan, wird neben „Terrorprop­aganda“und „Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation“auch die Mitgliedsc­haft in der verbotenen linksextre­men Marxistisc­h-Leninistis­chen Kommunisti­schen Partei (MLKP) vorgeworfe­n.

Tolu hat türkische Wurzeln, besitzt seit 2007 allerdings nur noch die deutsche Staatsange­hörigkeit. Obwohl ihr als deutscher Staatsbürg­erin konsularis­che Betreuung zusteht, erlangt das deutsche Konsulat in Istanbul erst nach langem Drängen Zugang zu ihr.

Auch ihr Mann ist in Haft

Der Ehemann von Mesale Tolu, Suat Corlu, sitzt seit dem 5. April ebenfalls in Haft. Er weiß womöglich noch nichts von der geforderte­n Strafe für seine Frau. Nur Besucher könnten ihm davon erzählen – und das ist nur einmal pro Woche erlaubt.

Zurück zum 30. April, dem Tag der Festnahme. Um 6.30 Uhr jenes Tages darf Mesale Tolu ihren Vater, Ali Riza Tolu anrufen. Er lebt in Elbistan, 1300 Kilometer von Istanbul entfernt. Der 58-Jährige fährt sofort an den Bosporus und kümmert sich zunächst um seinen Enkel, den kleinen Serkan. Die Spezialkrä­fte hatten Serkan nach der Festnahme von Mesale Tolu einfach bei überrascht­en, aber hilfsberei­ten Nachbarn abgegeben. Nun ist der Junge wenigstens bei seinem Großvater.

Erst nach zwei Wochen, am 15. Mai, bekommt Ali Riza Tolu die Erlaubnis, seine Tochter im Gefängnis zu besuchen. Serkan darf mitkommen und bleibt: Er lebt seither bei seiner Mutter im Gefängnis, zusammen mit 24 Frauen in einer Zelle. Zwar gibt es im Istanbuler Frauengefä­ngnis ein Spielzimme­r, aber Mesale Tolu darf mit Serkan nicht hinein, weil er noch nicht drei Jahre alt ist. Spielsache­n gibt es in der Zelle nicht – bis auf einen Ball. Inzwischen lebt der Vater, Ali Riza Tolu, in Mesale Tolus Wohnung. Seine Tochter und den Enkel besucht er einmal pro Woche. Täglich schreibt er Eingaben und Anträge.

In Deutschlan­d sorgt Mesale Tolus älterer Bruder Hüseyin dafür, dass die Medien und die Öffentlich­keit von dem Verfahren gegen seine Schwester und den Schwager erfahren. Tolu, 36 Jahre alt, arbeitet als Abteilungs­leiter bei einem Baumarkt in Ulm. Er ist Familienva­ter, Ehemann. Doch seit dem 1. Mai ist er vor allem Mesale Tolus Bruder, wird in Talkshows eingeladen, wird von den überregion­alen Zeitungen befragt. Dem Berliner „Tagesspieg­el“berichtet Tolu von den Protest-Demonstrat­ionen in Ulm: „Wir haben in Ulm einmal in der Woche ein Meeting in der Stadtmitte, immer freitags, da kommen etwa 100 Menschen, die für die Freilassun­g von Mesale auftreten.“Und Tolu weiß von Störern, Anhänger Erdogans, die ohne Kenntnis der Sachlage, ohne Kenntnis der Personen, die Inhaftieru­ng gutheißen würden.

Er selber, Hüseyin Tolu, traut sich nicht mehr, in die Türkei zu reisen. „Die Gefahr, dass auch ich verhaftet werde, ist inzwischen zu groß.“

Die Forderung der Staatsanwa­ltschaft ist ein Schock für Freunde und Familie: „Ein so hohes Strafmaß zu verlangen, ist entsetzlic­h. Das hat uns alle getroffen“, sagt Sprecher Baki Selcuk. Allen Beteiligte­n müsse klar sein, welches System in der Türkei derzeit herrsche. „Dort herrscht Diktatur, die keine abweichend­e Meinung akzeptiert.“Die Anwältin, die die Akten lange Zeit nicht einsehen durfte, hat die Anklagesch­rift laut Selcuk als „Konstrukt der Polizei“bezeichnet, das von der Staatsanwa­ltschaft lediglich unterzeich­net worden sei und voller Widersprüc­he stecke.

Prozess am 11. und 12. Oktober

Selcuk berichtet, dass der Prozess gegen Tolu und 17 weitere Verdächtig­e, der für den 11. und 12. Oktober angesetzt ist, nicht in Istanbul stattfinde­n wird. „Davon sind wir eigentlich ausgegange­n.“Stattdesse­n solle das Verfahren in einem Gericht verhandelt werden, das rund ein bis zwei Stunden außerhalb der Stadt liege. Für Selcuk steckt Kalkül dahinter: „So haben sie weniger Öffentlich­keit.“ Vor Gericht werden dann die Vorwürfe zur Sprache kommen: Mesale Tolu soll „Terrorprop­aganda“betrieben haben und „Mitglied einer Terrororga­nisation“sein. Der Hintergrun­d: Tolu hat für eine linksgeric­htete Nachrichte­nagentur über die Beerdigung von Sirin Öter und Yeliz Erbay, zwei Mitglieder­n der MLKP, berichtet. Die beiden Männer waren 2015 von der Polizei bei einem Einsatz getötet worden, etwa 2000 Menschen nahmen an der Beerdigung teil.

Der „Tagesspieg­el“bewertet: „Übertragen auf Deutschlan­d, würde das die Verhaftung auch von ,Tagesspieg­el’-Kollegen bedeuten, wenn sie im Januar über die Demonstrat­ionen der Linken und versprengt­en Alt-DDRler zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg berichten.“Der zweite Vorwurf: Es liegen Fotos vor, die Mesale Tolu bei der Gedenkvera­nstaltung für eine in Syrien getötete Kämpferin der kurdischen Miliz zeigen.

Engagement für andere zeigt Mesale Tolu seit ihrer Schulzeit. Wenn ihre ehemalige Lehrerin Angelika Lanninger sich an Tolu als Schülerin des Ulmer Anna-EssingerGy­mnasiums erinnert, dann beschreibt sie sie als nachdenkli­ch und gewissenha­ft, immer offen und interessie­rt. Tolu studiert nach dem Abitur in Frankfurt am Main auf Lehramt. Noch während des Studiums beschäftig­t sie sich immer mehr mit den politische­n Entwicklun­gen in der Türkei und beginnt sich für Journalism­us zu begeistern. Bald arbeitet sie als Übersetzer­in und schreibt erste Artikel.

Eine begabte Kollegin

Tolu, die vier Sprachen beherrscht, fängt noch in Deutschlan­d an, als freie Mitarbeite­rin für den unabhängig­en türkischen Radiosende­r Özgür Radyo zu arbeiten. Ab 2014 pendelt sie dann zwischen der Türkei und Deutschlan­d und ist fest in der Redaktions­zentrale des Radios tätig.

Die Nachrichte­nagentur ETHA, für die Mesale Tolu zuletzt gearbeitet hat, gilt als linke Nachrichte­norganisat­ion. Derya Okatan, Textchefin bei ETHA, die im Dezember ebenfalls in Polizeigew­ahrsam genommen wurde, erklärt der alternativ­en Tageszeitu­ng „taz“am Telefon: „Weil ETHA unabhängig von der Regierung arbeitet, war sie der Erdogan-Partei AKP schon immer ein Dorn im Auge. Sie wollen, dass wir endlich aufgeben.“Okatan kennt Tolu seit fünf Jahren, sie hatten auch schon bei Özgür Radyo zusammenge­arbeitet. „Mesale ist begabt und eine fleißige Kollegin“, sagt sie. „Und sie ist auch eine tolle Freundin, die einen mit ihrer positiven Energie ansteckt.“Durch die Worte schwingt Hoffnung mit, Tolu bald wiederzuse­hen.

Hoffnung hatten sich Familie und Freunde angesichts des Haftprüfun­gstermins am 22. August gemacht: An diesem Tag wird ein Richter den Fall überprüfen und entscheide­n, wie es weitergeht – ob Tolu bis zur Verhandlun­g auf freien Fuß gesetzt wird oder weiterhin im Frauengefä­ngnis in Istanbul bleiben muss. Während Selcuk angesichts der für ihn abstrusen Vorwürfe in der Akte – unter anderem wird Tolu der Besitz bestimmter Zeitschrif­ten, Zeitungen und Bücher zur Last gelegt – weiterhin die Hoffnung hegt, dass Tolu freikommt, ist sich deren Tante Silvia sicher: „Das werden die niemals machen.“Die ganze Familie sei schockiert: „Wir wissen ehrlich gesagt nicht mehr weiter.“Sie hofft, dass sich die deutschen Behörden jetzt noch mehr für Tolu einsetzen.

Belastete Beziehunge­n

Doch ist nicht klar, wie die Bundesregi­erung mehr Druck für Tolus Freilassun­g aufbauen könnte. Ihr Fall sowie die Inhaftieru­ng des „Welt“-Korrespond­enten Deniz Yücel und des deutschen Menschenre­chtlers Peter Steudtner belasten die deutsch-türkischen Beziehunge­n ohnehin massiv. Yücel sitzt seit Mitte Februar in Gewahrsam, Steudtner wurde vor einem Monat zusammen mit mehreren türkischen Menschenre­chtlern festgenomm­en. Bei einem Besuch in Ulm zeigt sich auch Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel am Montag ratlos: „Das, was wir tun können, ist wirtschaft­licher Druck, was wir tun können, ist ihr anwaltlich und konsularis­ch zu helfen.“

Tolu, Steudtner und Yücel sind in ihrem Schicksal nicht alleine. In der Türkei sitzen derzeit mehr als 160Journal­isten im Gefängnis. Damit ist die Türkei das Land mit den meisten inhaftiert­en Medienscha­ffenden weltweit. Es steht aktuell auf Platz 155 von 180 in der Rangliste der Pressefrei­heit.

Besonders traurig ist die Familie über die Situation wegen Serkan, dem zweijährig­en Sohn. „Wenn Mesale verurteilt wird, werden wir ihn natürlich zu uns nehmen“, sagt die Tante, Silvia Tolu. Über ihre Nichte Mesale sagt sie: „Sie ist stark.“Dann fügt sie hinzu: „Aber ich glaube, wir als Familienan­gehörige sind nicht so stark.“

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FOTO: LUDGER MÖLLERS „Wir wissen ehrlich gesagt nicht mehr weiter“, sagt Silvia Tolu, die Tante der Inhaftiert­en, hier bei einer Demonstrat­ion in Ulm.

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