Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wandern im Eiswasser
Nichts für Warmduscher: Canyoning in der Viamala-Schlucht
Viamala heißt „schlechter Weg“. Für die römischen Legionäre war der „schlechte Weg“die Alternative zur Brennerroute, um an die nordischen Grenzen ihres Weltreiches zu gelangen. Später versuchten mittelalterliche Kaufleute, ihre Ochsenkarren entlang der steil aufragenden Felsen durch die Schlucht zu bugsieren. Manche stürzten in die Schlucht hinab. Heute nehmen die Reisenden nicht mehr den „schlechten Weg“durch die Schlucht, sondern die schweizerische Autobahn A 13. Manche fahren in Thusis-Süd ab und machen einen Zwischenstopp an der Aussichtsplattform, die an einer der spektakulärsten Stellen der Viamala hoch über dem Hinterrhein liegt.
Wer an diesem sonnigen Sommermorgen hinabblickt in die Schlucht, sieht sechs Gestalten in Neoprenanzügen, die auf steilen Treppenstufen zum Fluss hinabsteigen. Von oben ist kaum vorstellbar, dass sich Sportler tatsächlich gefahrlos in das sprudelnde Wasser begeben können. Tatsächlich gehört die Viamala-Schlucht zu jenen Stellen in den Alpen, an denen Outdoor-Anbieter Canyoning-Touren veranstalten. Danny Brown, ein gebürtiger Brite, der Schweizerdeutsch mit englischem Akzent spricht, ist der Führer. „Man braucht eigentlich keine besonderen Kenntnisse“, beruhigt der 35jährige OutdoorFan. Danny schickt einen Schützling nach dem anderen in den Fluss, um einzutauchen in das Eiswasser des Hinterrheins. Es fühlt sich eher frisch als eisig an und ist dank des Neoprenanzugs gut erträglich.
Ein paar Minuten und eine kurze Kletterpartie später wird es ernst. Das Canyoning beginnt mit dem Sprung aus vielleicht anderthalb Metern Höhe in den Rhein. „Die Beine anwinkeln“, mahnt Danny. Für die senkrechte Körperhaltung ist der Bergfluss nicht tief genug. „Am besten: Arschbombe!“, ruft unser Führer noch. Dann ist er im Fluss. Mit einem Satz springen wir hinterher: Bruno, Thomas und Stefan, drei Schweizer aus dem Raum Zürich auf Kurzurlaub, dann der Besucher aus Deutschland, zum Schluss Augustin Pelletieri aus Argentinien.
Nach dem ersten Eintauchen ins Wasser besteht das Canyoning zunächst einmal darin, im Fluss dahinzutreiben. Am besten auf dem Rücken, mit den Füßen nach vorn. Der Blick ist nach oben gerichtet, links und rechts ragen Schieferfelsen empor. Nicht immer sieht man den Himmel, so eng ist die Schlucht. Zwischendurch fordert Danny zum „aktiven Schwimmen“auf, also zum Kraulen bis zu einem vorgegebenen Punkt an der Felswand, um von dort aus gemeinsam die nächste Etappe anzugehen. Hin und wieder gilt es, über einen Fels zu klettern, um dann erneut ins Wasser zu klettern.
„Eigentlich ist es mehr Flusswandern als Canyoning“, sagt Danny. Jedenfalls, wenn man es mit Canyoning-Touren anderswo vergleicht, im Tessin zum Beispiel. Dort versteht man unter diesem Begriff, dass man in eine Schlucht zu Fuß hinabsteigt, sich teilweise abseilt und nur einen Teil der Strecke schwimmend oder dahintreibend zurücklegt. Ein Seil haben wir hier nicht dabei. Alle Stufen, die der Hinterrhein hier auf seinem Weg in Richtung Bodensee überwindet, lassen sich mit einem Sprung überwinden, ohne dass es dazu großen Mutes bedarf. Zwischendurch ruft Danny einen „Arschbombenwettbewerb“aus, und einer nach dem anderen hüpft ins Wasser. Dabei ist die Strecke so angelegt, dass niemand springen muss, wenn er nicht will. Immer gibt es auch eine Möglichkeit, wie man ohne Sprung wieder ins Wasser kommt.
Nach zwei Stunden wird es dann aber doch langsam etwas frisch im Gebirgswasser, Neoprenanzug hin oder her. Da kommt, genau richtig, das Ende der Tour in Sicht. Vor der Ausstiegsstelle, einem der wenigen Orte mit flachem Ufer, gibt es aber noch einen letzten Höhepunkt: Einen Sprung vom Felsen aus etwa sechs Metern Höhe. Im Fels hängt ein Seil, das das Hinaufklettern erleichtert. Von oben flößt die Höhendifferenz schon einen gewissen Respekt ein, aber Kneifen gilt jetzt nicht, und so taucht der Flusswanderer mit einem Tarzan-Schrei ein letztes Mal in den Hinterrhein ein, um dann hinüber zum Ausstieg zu kraulen.
„Klar kann man die ViamalaSchlucht auch als Wanderer erleben“, sagt später Urs Attendorfer. Der Bündner arbeitet an dem Infozentrum bei der Aussichtsplattform über der Viamala-Schlucht. „Aber es ist was ganz anderes, wenn Sie mit dem Canyoning da durchziehen. Ein Naturerlebnis pur.“Ein solches hatten die Römer auch, obwohl sie darauf wohl gut hätten verzichten können. „Stiebender Steg“habe der erste Weg geheißen, den die Römer in die Schlucht gebaut hätten, erzählt Attendorfer. Dass sich einmal Menschen freiwillig in das stiebende Wasser hineinlassen würden – den alten Römern wäre dieser Gedanke wohl fremd gewesen.