Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zwischen Zukunft und Retro
Viele Wege führen zum Erfolg – das zeigt das New Pop Festival in Baden-Baden
BADEN-BADEN - Moderner Elektropop auf der einen Seite – Bluesrock, Soul und Flower-Power-Pop auf der anderen: Das diesjährige SWR3 New Pop Festival pendelte zwischen Zukunft und Retro. Wobei die meisten Künstler es nicht beim Tribut an große Vorbilder beließen, sondern die klassischen Genres durchaus zeitgemäß aufbereiteten.
Jenseits von der Musikrichtung stellt sich natürlich die Frage, wie zukunftssicher die in Baden-Baden präsentierten Musikkarrieren sein werden. Einige der Künstler wie die Indie-Rocker mit Elektro-Einschlag The xx können schon als ganz gut etabliert gelten, andere arbeiten noch an ihrem ersten Album. In dieser kritischen Phase kann ein Gastspiel bei New Pop einen entscheidenden Schub geben. Sängerin Anastacia erinnerte sich etwa an ihren Auftritt im Jahr 2000, der gleichzeitig ihr erstes Konzert in Europa überhaupt war – dieses Jahr kam die Musikerin, die seitdem viele Höhen und Tiefschläge erlebt hat, wieder, um den „Pioneer of Pop Award“entgegenzunehmen.
Auch im Musikgeschäft hat sich in der Zwischenzeit viel geändert – Youtube wurde fünf Jahre nach Anastacias erstem Auftritt gegründet, selbst das mittlerweile weitgehend abgeschriebene Myspace gab es noch nicht. Heute finden sich dagegen reichlich Plattformen, die Musiker bespielen können.
So kann Anne-Maria für ihren mit Clean Bandit und Sean Paul aufgenommenen Hit „Rockabye“bereits sehr beachtliche eineinhalb Milliarden Youtube-Aufrufe vorweisen. Die Konzertbühne stellt dann aber doch noch mal eine besondere Plattform dar, und auch hier zeigte die 26-jährige Britin im diesjährigen FestivalJahrgang besonderes Starpotenzial.
Die Sängerin hat eine beachtliche Stimme und Ausstrahlung, dazu kommen aber auch reichlich Ehrgeiz und Disziplin. So sang die dreifache Karate-Weltmeisterin im ShotokanStil bereits als Kind in Musicals und sammelte neben dem Clean-BanditSong Erfahrungen durch weitere Kollaborationen. Ihre Debüt-EP heißt passenderweise „Karate“, in den Texten ihrer Songs wird viel Persönliches verarbeitet. Beim Auftritt im Festspielhaus spürte man die Intensität, mit der sich die Sängerin in ihre Musik stürzt, in jedem Moment. Zwischen den großen Posen gab Anne-Marie aber auch gern mal den Clown und schnitt Grimassen.
Eine zielstrebige Karriereplanung verfolgt auch die zweite Sängerinnen-Entdeckung des diesjährigen New Pop Festivals, Alice Merton. Sie studierte Popmusik-Design an der Popakademie Mannheim. Wie am Reißbrett entworfen wirken ihre Songs aber dennoch nicht, dazu steckt auch hier zu viel Persönliches drin. Denn in „No Roots“verarbeitet die Tochter deutsch-irischer Eltern die Erfahrung, dass sie bereits als Kind elfmal umgezogen war. Das durchaus ernste Thema der Wurzellosigkeit wurde im Konzert im Theater Baden-Baden aber mit einer guten Portion Tanzbarkeit kombiniert, auch „Hit The Ground Running“von der ersten EP ist sehr eingängiger Elektropop. Mit dem ersten Album will sich die 24-jährige Sängerin aber noch Zeit lassen – wohlwissend, wie schnell man heute im Musikgeschäft bereits nach einem Misserfolg als verbrannt gelten kann.
Emotionale Musik kommt an
Die Gefahr besteht bei Rag'n'Bone Man, der in diesem Jahr sein DebütAlbum „Human“veröffentlicht hat, wohl kaum. Denn der bürgerlich Rory Charles Graham genannte Brite trifft mit seinem Mix aus klassischem Soul und Blues derzeit offenbar einen Nerv. Auch optisch bleibt der 32-Jährige im Gedächtnis haften – sein wuchtiger, mit Tattoos übersäter Körper hat ihm den Spitznamen „sanfter Riese“eingebracht. Seine bescheidene Art und emotionale Musik gelten den Fans als Trost in unübersichtlichen Zeiten und auch das Konzert in Baden-Baden verließ man in sehr ausgeglichener Stimmung.
Bluesrock spielte auch bei zwei weiteren Festival-Acts eine große Rolle. Im Falle von Kaleo stammt er aus Island. Sänger Jökull Júlíusson, kurz JJ, könnte gut als Model durchgehen. Wenn der 27-Jährige aber den Mund aufmacht, klingt er dagegen wie ein alter Blues-Mann, der schon manche Begegnung mit dem Teufel knapp überlebt hat. Das Quartett entpuppte sich beim Auftritt im Kurhaus als großartig eingespielte LiveBand – ebenso wie Welshly Arms. Die stammen aus Cleveland, Ohio, und haben neben Blues-Sängern wie Howlin’ Wolf offenkundig Jimi Hendrix als Vorbild. Wer nur den Ohrwurm-Song „Legendary“kannte, durfte überrascht gewesen sein, mit welcher Härte die Amerikaner losrocken können. Freunde ruhigerer Töne kamen daher wohl eher bei Lola Marsh auf ihre Kosten: die Israelis boten nicht nur verträumten IndiePop – sondern dekorierten ihre Bühne dazu auch passenderweise mit Blumengestecken.