Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Eine Frage der Ehre
Nicht erst seit dem Dieselbetrug zweifeln Politiker und Bürger an der Moral der Manager
Internationale Automobilausstellung 2015 in Frankfurt: Zur Eröffnung adelt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Messe als „Leistungsschau der Innovationskraft“, bevor am zweiten Tag eine Nachricht aus den Vereinigten Staaten zuerst die Ausstellung selbst und dann die gesamte deutsche Automobilindustrie in ihren Grundfesten erschüttert: Die US-Umweltbehörde Epa veröffentlicht, dass VW illegale Abschalteinrichtungen in der Motorensteuerung von Dieselautos verwendet, um Abgasnormen zu umgehen. Es ist der Anfang einer Reihe von Enthüllungen, die in den folgenden Monaten fast alle deutschen Autokonzerne in den Fokus von Ermittlern wandern lassen.
Zwei Jahr später klingt die Autokanzlerin anders. „Ich bin sauer“, erklärt sie bei einer Fernsehdiskussion zur Bundestagswahl. Sie sei vier Jahre lang Umweltministerin gewesen. „Ich hab das alles miterlebt, wie die Automobilindustrie zum Teil auch sagt, was sie alles nicht kann, und dass sozusagen hier richtig hintenrum betrogen wurde, dass man einfach die Vorgaben ausgenutzt hat.“Betrug? Täuschung? Schwindel? Begangen, beauftragt und geduldet von genau den Topmanagern, die Merkel vor zwei Jahren in Frankfurt getroffen, gelobt und hofiert hat?
Doch es geht nicht nur um manipulierte Motoren. Seit wenigen Wochen steht ein weiterer Vorwurf im Raum: Seit den 1990er-Jahren sollen sich mehr als 200 Ingenieure und Manager der Autokonzerne in rund 60 Arbeitsgruppen regelmäßig zu Geheimsitzungen getroffen haben, um viele Fragen – darunter auch die Frage der Abgasreinigung bei Dieselfahrzeugen – abzusprechen. Haben die internen Diskussionen den Wettbewerb zu Lasten von Millionen von Kunden ausgeschaltet? Haben die Konzerne gegen Kartellgesetze verstoßen, um ihre Gewinne zu vergrößern? Die Unternehmen wiegeln ab, das seien alles nur unseriöse Spekulationen. Die Selbstanzeigen, die Daimler und VW abgegeben haben, sprechen jedoch eine andere Sprache.
Vor allem aber: Abgasbetrug und Autokartell sind ein weiterer Höhepunkt in der Reihe von Wirtschaftsskandalen, in der sich die Elite der Topmanager verdächtig machte, nur einer einzigen inneren Richtschnur zu folgen – und zwar der des maximalen Profits. Volkswagen bestach den eigenen Betriebsrat mit Luxusprostituierten (2005). Der Industriekonzern Siemens erkaufte sich in aller Welt Aufträge – mit Schmiergeldzahlungen (2006). Top-Manager der Versicherung Ergo luden mehr als 60 Vertreter als Bonus zu einer Sex-Orgie mit 20 Prostituierten nach Budapest ein (2007). Finanzinstitute erwarben US-Hypothekenpapiere, bündelten sie zu Wertpapieren und verkauften sie als sichere Anlagen weiter, obwohl klar war, dass es sich um hochriskante Anlagen handelte (2010). Über Jahre sprachen sich die Lastwagenhersteller Daimler, Iveco, MAN, Volvo und DAF bei Preisen ab und prellten ihre Kunden (2011). Ein Ring von internationalen Großbanken manipulierte den Referenzzins Libor, um Handelsgewinne zu realisieren (2011). Beim „größten Steuerraub in der deutschen Geschichte“, wie die „Zeit“die Affäre um die Cum-Ex-Geschäfte bei Aktiendeals nennt, plünderten Banker die deutsche Staatskasse aus – ob illegal, ist umstritten, anständig war es nicht.
Zuerst Banker, dann Autobosse
Zuerst waren es Banker und Versicherungsmanager, dann die Chefs der Industriekonzerne und nun die Vorstandsvorsitzenden der Automobilhersteller, die jedes Vertrauen verspielten und nun unter Generalverdacht stehen. Bürger, Kunden und Verbraucher stellen sich diese Frage, ob Anständigkeit kein Wert ist, der die Kaste der Manager umtreibt. Gehören ethische und moralische Werte nicht zum grundlegenden Rüstzeug der Wirtschaftselite? Oder ganz einfach: Haben Manager wie Martin Winterkorn, der Volkswagen führte, als der Wolfsburger Autobauer die Betrugssoftware entwickelte, eigentlich kein schlechtes Gewissen?
Auf alle Fälle sollten sie es haben, denn langfristig „zerstören Gewissenlosigkeit, Betrug und Korruption nicht nur den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern auch den Erfolg der Wirtschaft“, sagt Notker Wolf im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“. Der Mönch ist Erzabt des Benediktinerklosters Sankt Ottilien und war Jahre oberster Repräsentant des Ordens. Der 77-Jährige fordert von den Managern, ihrer Vorbildrolle gerecht zu werden. Denn „die Skandale wirken sich negativ auf die Moral der Gesellschaft aus“. Die Folge: „Wenn schon die da oben sich erlauben können, so zu handeln, dann ist es auch uns gestattet“, erklärt Wolf. Zu aller nötigen unternehmerischen Freiheit, die auch der Benediktiner als grundlegend für eine prosperierende Wirtschaft hält, gehört nach Ansicht von Notker Wolf auch die unternehmerische Verantwortung. „Ein Unternehmer braucht die Freiheit der Gestaltung“, erklärt er, „das beeinhaltet das Risiko des Scheiterns und des Versagens, und für die entstandenen Schäden muss er dann die Haftung übernehmen.“
Notker Wolf zeichnet das Bild des ehrbaren Kaufmanns, ein Ideal, das nicht alle Manager zu teilen scheinen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine im Frühjahr veröffentliche Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die rund 4100 Entscheidungsträger aus Unternehmen in 41 Ländern befragt hat – davon 100 aus Deutschland. Demnach halten 43 Prozent der Befragten Bestechung und Korruption in Deutschland für verbreitet, zudem ist fast ein Viertel (23 Prozent) bereit, für die eigene Karriere und eine höhere Bezahlung unethisch zu handeln.
Notker Wolf verortet die Gefahr unethischen Verhaltens vor allem in Großkonzernen und Aktiengesellschaften – weniger in Familienbetrieben oder mittelständischen Firmen. „Dort haben Chefs einen engeren Bezug zu ihren Mitarbeitern, sie erfahren ihre Verantwortung für das Wohl ihrer Leute intensiver“, sagt Wolf. Anders die Manager in Großkonzernen. „Dort sind Arbeiter keine Mitmenschen mit individuellen Schicksalen, sondern Arbeitskapital und Zahlen.“Vor allem bei Aktiengesellschaften gehe es nur um Dividenden und die Gewinnmaximierung – „das setzt selbst Topleute unter Druck“.
Einer der Manager, der den Druck der Dividenden selbst gespürt hat, ist der frühere Daimler-Chef Edzard Reuter. Im Gespräch mit dem Philosophen Richard David Precht relativiert Reuter den Zwang zu immer höheren Gewinnen als entscheidende Triebfeder für unethisches Verhalten. Am Ende habe jeder die Freiheit, sich für eine an ethischen Werten und gesetzlichen Regeln ausgerichtete Unternehmensführung zu entscheiden. „Ich bin fest davon überzeugt, dass auch heute der Spielraum für Leute da ist, die in der Spitzenverantwortung stehen, klipp und klar Position zu beziehen, dass man mit kurzfristigem Gewinndenken allein nicht weiterkommt“, erklärt Reuter. Genau das fordern auch die politischen Parteien, die sich am Sonntag um die Stimmen der Bürger bewerben. Zudem wollen CDU und SPD genauso wie Grüne, FDP und Linke die Sanktionen bei Gesetzesverstößen verschärfen und Gerichte und Strafverfolgungsbehörden für den Kampf gegen Wirtschaftskriminalität stärken – alles legitime Anliegen, die den notwendigen Rahmen für eine fair ausbalancierte soziale Marktwirtschaft aufziehen. Doch die Forderung der Politiker an die Topmanager nach Anstand in der Unternehmensführung zeigt auch: Eine prosperierende Wirtschaft basiert auf Vertrauen, sie gründet sich auf das Prinzip des ehrbaren Kaufmanns und den Grundsatz von Treu und Glauben – und ist damit nicht an Gesetze und strenge Regeln geknüpft, sondern an die Interaktion der handelnden Personen.
„Auch heute ist der Spielraum da, klipp und klar Position zu beziehen, dass man mit kurzfristigem Gewinndenken allein nicht weiterkommt.“
Der frühere Daimler-Chef Edzard Reuter über den Druck von Managern
Der Einzelne ist gefordert
Für Notker Wolf ist ethisches Verhalten aus diesem Grund „nicht organisierbar“. Ein Chef muss von seinen Mitarbeitern zwar immer ethisches Verhalten einfordern und Vorbild sein, aber letzten Endes hänge es immer am Einzelnen. „Ethik ist eine Sache der Ehre und des persönlichen Anstands“, sagt der Benediktiner.
Die Konsequenz ist klar: Topmanager wie der im Zuge der Dieselaffäre von VW entlassene Vorstandschef Martin Winterkorn können nicht ihre Ingenieure für den Betrug verantwortlich machen – genauso wenig wie Entwickler sich hinter ihren Vorständen verstecken können.